5.8.2008

Franz Schreker - Die Gezeichneten (3)

(Teil 1, Teil 2)

Ich halte DIE GEZEICHNETEN für ein außerordentliches Werk. Der Einsatz von Klangfarben in fast mikroskopischer Abstufung wird kontrolliert durch Schrekers enorm versierte Orchesterbehandlung, die den Vorteil hat, dass sie eine bessere Balance zwischen Orchester und Sängern ermöglicht. Außerdem betont sie Schrekers revolutionäre und progressive Seite. Man kann seine Musik schön nennen, kann sie aber auch als äußerst beunruhigend bezeichnen. Denn es kommt selten vor, dass man eine Konsonanz oder die echte Auflösung einer Dissonanz spürt. Die Musik ist ständig in Unruhe, ständig in Bewegung.[1]

(Kent Nagano)



Robert Brubaker, Anne Schwanewilms, Michael Volle, Robert Hale, Wolfgang Schöne
Deutsches Symphonie-Orchester Berlin
Kent Nagano
Salzburger Festspiele 2005

Gerade eben habe ich den ersten Akt auf der DVD gesehen und gehört - und war nach den ersten Takten derart verblüfft, daß ich abgebrochen und kurz die CD eingelegt habe: ich war einen Moment der festen Überzeugung, diese Musik noch nie gehört zu haben. Aber doch, da war keine falsche DVD in den Schacht geraten, die Noten sind dieselben.

Kent Nagano und sein Deutsches Symphonie-Orchester Berlin setzen die Partitur derart differenziert um, daß endlich die Leitmotive hörbar werden - und zwar nicht nur, wo sie erstmals überdeutlich vorgestellt werden, sondern auch überall dort, wo sie in den Nebenstimmen auftauchen. Da gibt es einen stetigen rhythmischen Fluß; wo die Musik große Bögen bildet, wird sie nicht durch ständige Temposchwankungen - womöglich mit einer Zerdehung jedes Taktendes, wie man das gelegentlich findet - daran gehindert, ihren Atem zu entfalten. Agogisch gestaltet werden hingegen Brüche in der Form, Übergänge, Fragen. Hin und wieder gibt es leises Gewackel in der Intonation (besonders die Holzbläser sind davon betroffen) - das mag ich aber kaum erwähnen, weil die positiven Aspekte dieser Leistung alle Kritik kleinlich wirken lassen.

Auch die Sänger sind überdurchschnittlich. Robert Brubakers Alviano leidet ein wenig an der englischen Färbung der Vokale, hat aber einen wirklich klangschönen Tenor, der das mehr als aufwiegt. Ich fand die Carlotta der Elizabeth Connell schon beeindruckend - Anne Schwanewilms steht dem aber nicht einen Millimeter nach, eher im Gegenteil: in Verbindung mit Naganos präzisem Verständnis für die dramatische Struktur der großen Arie, mit der der erste Akt schließt, kommt die außergewöhnliche Schönheit dieser Musik erst richtig zum Leuchten.

Wenn man eine Oper nur hört, fehlt definitiv Entscheidendes, auch wenn es nur darum geht, die Musik zu beurteilen: die ist schließlich, auch und gerade in der Intention des Komponisten, nur eine von mehreren Ebenen, die dem Publikum präsentiert werden. Das Geschehen auf der Bühne kann man am Bildschirm natürlich nur eingeschränkt wahrnehmen; man ist auf den Blick der Kamera verwiesen, und es fehlt die Unmittelbarkeit in der Wahrnehmung von räumlicher Tiefe. Dennoch findet sich hier ein m.E. akzeptabler Kompromiß.

Im abgedunkelten Zuschauerraum bei einer Live-Aufführung hat man keine Chance, im Libretto parallel mitzulesen - und selbst die besten Sänger singen gerade so textverständlich, daß man dem Text folgen kann, wenn man ihn auswendig kennt. Beim Schauen einer DVD kann man Untertitel einblenden und den Text im Zusammenhang verfolgen - ein Feature mit weitreichenden Konsequenzen.

  1. [1] Damit kommt Nagano meinem eigenen Urteil so nahe, daß der Verdacht entstehen könnte, ich hätte bei ihm abgeschrieben.
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