Arnold Schönberg - Gurrelieder
Siegfried Jerusalem, Sharon Sweet, Marjana Lipovsek
Wiener Philharmoniker
Claudio Abbado
Mit Arnold Schönberg (1874 - 1951) verbindet man i.d.R. Begriffe wie Zwölftonmusik und Atonalität, die Vorherrschaft der Dissonanz über den Wohlklang, des Intellekts über das Gefühl usw. usf. Ich könnte jetzt drangehen und mir diese und viele weitere Vorurteile eins nach dem anderen vornehmen - ich kann aber auch Schönberg selbst sprechen lassen.
Die Gurrelieder hat Schönberg zwischen 1899 und 1900 zunächst für Gesang und Klavier geschrieben, und in den folgenden Jahren immer wieder, soweit es seine prekäre Existenz zuließ, hervorgeholt und orchestriert; schließlich wurden sie (unter der Leitung von Franz Schreker) 1913 in Wien uraufgeführt. Schon zum Zeitpunkt ihrer ursprünglichen Konzeption um die Jahrhundertwende waren sie keineswegs ein kühner Aufbruch auf neuen Wegen, wie man dies von einem Fünfundzwanzigjährigen eigenlich erwarten würde; vielmehr besinnen sie sich nochmals auf das Vorbild Wagners, und fassen all jene Möglichkeiten zusammen, die der Gebrauch des Leitmotivs zur Schaffung großer formaler Bögen bietet.
Der Text von Jens Peter Jacobsen (1847-1885) ist eine tief romantische Variation des Tistan-Themas: König Waldemar eilt zu seiner Geliebten Tove, nur um diese tot zu finden; Gott verfluchend steigt er ihr nach ins Todesreich. Im dritten Teil klappern dann gelegentlich die Sargdeckel, wenn sein Gefolge sich beschwert, nicht sterben zu dürfen; aber auch eine Narrenfigur hält Vortrag und ironisiert die Jagd des Königs aus dem Grab heraus nach einer Toten.
Der Orchesterapparat (u.a. 8 Flöten, 10 Hörner, 6 Pauken, 5 Solisten, drei Männerchöre und ein 8-stimmiger Chor) ist riesig, und übertrifft selbst jenen von Mahlers Achter. Dabei wird nur an ganz wenigen Stellen richtig Krach veranstaltet; in erster Linie geht es um eine kammermusikalische, sehr verzwickte und komplexe Ornamentik. Grandios vorgeführt wird dies schon im Vorspiel: die Naturschilderung des beginnenden Tages wird vorgetragen von allen hohen Instrumenten, die einen dichten Es-Dur-Teppich weben, indem sie in überlagernden rhythmischen Schichten keinen klaren Puls erkennen lassen. Das hört sich an wie ein vom beginnenden Sonnenlicht beschienenes Spinnennetz, das ein leichter Windhauch bewegt und zum Glitzern bringt.
Es ist müßig, die zahlreichen Einfälle und Wendungen aufzuzählen - hier ist ein Komponist am Werke, dem die Ideen nicht ausgehen, und der ein den Text verblüffend präzise kommentierendes Motiv dem nächsten folgen läßt. Hervorzuheben wären - neben dem Vorspiel - das "Lied der Waldtaube" am Ende des ersten Abschnitts, das schon eine eigene, in sich geschlossene Oper darstellt, sowie der letzte der beiden Männerchöre, der in seiner mit differenziertesten musikalischen Mitteln gestalteten Todessehnsucht sich deutlich an Wagners Parzival-Chöre anlehnt, und über diese hinausreicht.
Wenn es je etwas wie "Jugendstil" in der Musik gegeben hat - hier kann man ihn finden.