György Ligeti - Violinkonzert

The Ligeti Project
(Frank Peter Zimmermann, Violine)
Teldec

Ligeti gilt als Komponist, der seinen Ruhm einem einzigen Werk verdankt: den Atmospheres. Das liegt nicht zuletzt daran, daß Stanley Kubrick in "Odyssee 2001" diese Musik unter die Bilder von der Erfindung des Werkzeugs durch die Urmenschen legte (übrigens ohne Ligeti zu fragen, geschweige denn zu bezahlen). Darüber hinaus ist es ein echter Meilenstein in der Musik, etwas völlig Neues, ein unglaublich bewegendes Orchesterstück (Martin Hufner gibt eine gute Beschreibung, die auch das zentrale Paradox - Statik des Klanges bei gleichzeitiger äußerster Bewegtheit der einzelnen Stimmen - adäquat benennt).

Ligeti hat aber noch andere Sachen geschrieben - die leider drohen, in Vergessenheit zu geraten, obwohl sie unglaublich frisch und lebendig daherkommen. Das Violinkonzert von 1992 gehört dazu.

Der erste Satz kommt wie aus dem Nichts, die Sologeige spielt leiseste Brechungen der mittleren, der D- und der A-Saite. Das steigert sich langsam: in einem stetigen Puls(1) brechen Blechbläser herein in einem treibenden Rhythmus.

Der zweite Satz beginnt mit einem Gesang der Geige, bald begleitet von einer zweiten Stimme (und wer, wie hier, einen glaubwürdigen zweistimmigen Satz schreiben kann, verdient in meinen Augen höchste Weihen). Es bleibt bei Variationen dieser Kantilene, in die freilich auch schrill überblasene Blockflöten montiert werden.

Es folgt ein Andante; ohne erkennbaren Puls kommt es zu einem wilden Durcheinander und nebeneinander Herbeireden, das unterbrochen wird von gestopftem Blech, nochmals beginnt, schließlich abrupt von einem Beckenschlag beendet wird.

Getragene Zweiklänge tiefer Holzbläser, darüber, in höchstmöglicher Lage, die Sologeige: der vierte Satz nimmt die "Stimmung" des zweiten wieder auf, allerdings ohne erkennbare formale Ordnung. Wieder werden rhythmische Einwürfe einmontiert, die die Idylle unterminieren.

Im letzen Satz schließlich kommt es zu einem wilden Durcheinander aller Instrumentengruppen - dabei ist das kein Chaos, denn die einzelnen Stimmen sind stets von mehreren Instrumenten gedoppelt. Wieder geht das Blech lautstark dazwischen, diesmal in homophonen Linien, wie die Signale eines im Hafen einlaufenden Schiffes. Schließlich hat die Sologeige eine letzte Kadenz, die aus einem Kinderlied zu zitierieren scheint. Paukenschläge, Flatterzunge der Flöten - Schluß.

Das ganze Werk assoziiere ich mit der Sicht auf eine großstädtische Einkaufsstraße im Zeitraffer. Man sieht auf den beginnenden Tag, langsam kommen die Verkäufer zu ihren Geschäften, der Publikumsverkehr beginnt, es wird zuweilen hektisch, es gibt aber auch Momente, wo zwei entgegenkommende Menschen sich durch das ganze Gewimmel in die Augen schauen. Solch eine Szenerie hat keine Logik oder Form, sie ist aber dennoch in sich stimmig. Genauso kommt mir Ligetis Violinkonzert vor: es folgt keiner nachvollziehbaren Linie, ergibt aber einen Sinn, der sich vor ordnenden Worten komplett verbirgt.

  1. (1) Ich kann leider nicht in zwei Worten erklären, was ich unter "Puls" verstehe - der Begriff bekommt demnächst einen eigenen Eintrag.