Sir Colin Davis
London Symphony Orchestra
LSO Live, 29-30.9.2000
Hector Berlioz (1803-69) gehört zu den originellsten Gestalten der Musikgeschichte.
Als Siebzehnjähriger hat er, aus der Provinz nach Paris kommend, erstmals ein Orchester
gehört. Zehn Jahre später trat er mit einem Orchesterwerk an die Öffentlichkeit,
das gleich auf mehreren Ebenen bis dato völlig unerhört war.
Das Jahr ist 1830. Beethoven ist vor drei Jahren gestorben. Richard Wagner mit seinen
Siebzehn lernt noch, und Franz Liszt hört Berlioz' Werke, freundet sich mit ihm
an. Bis die Neudeutschen sich finden, wird noch Zeit vergehen.
Wenn man sich den zeitlichen Bezug klarmacht, kommt man beim Hören der Symphonie
fantastique nicht aus dem Staunen heraus:
Der formale Aufbau hat sich von dem der Sonate emanzipiert. Was dreißig Jahre später
Liszt als völlig neues Konzept verkaufen wird, ist hier bereits realisiert: dies
ist die erste symphonische Dichtung, eine musikalische Form also, die einer
außermusikalischen Idee folgt, ausgedrückt z.B. in einer Dichtung, einem Drama.
Das Orchester ist radikal neu besetzt: man findet, auf einen Schlag, die Standardbesetzung
des großen romantischen Orchesters, an deren Grundelementen sich später nicht mehr
viel ändern wird. Auf der Seite des Fortissimos gibt es den kompletten Blechbläserapparat
inklusive Posaunen und Tuba (Beethoven kennt hier nur Hörner und Trompeten)
sowie ein erweitertes Schlaginstrumentarium; es kann aber auch wesentlich leiser
werden als je zuvor: neben Oboe und Englisch Horn übernimmt die Harfe erstmals eine
wichtige Rolle.
Dabei geht es geht nicht nur um die Besetzung, sondern auch um die Art, wie sie
verwendet wird: die Kunst der Instrumentierung hat nicht etwa Wagner erfunden,
sondern Berlioz (von dem auch die erste theoretische Auseinandersetzung mit dem
Thema stammt, in Form der später von Richard Strauß überarbeiteten Instrumentationslehre).
Man muß nur einmal an einem Abend die Symphonie fantastique neben - z.B. - Beethovens
Siebte stellen; man begreift den Unterschied auf Anhieb.
Nicht zuletzt: man muß die musikalischen Wüstenlandschaften des dritten
Satzes zur Kenntnis nehmen: da spielt eine vereinzelte Oboe einige wenige lang
ausgehaltene Töne, zum Schluß kommentiert vom Paukensolo. Das ist derart radikales
Neuland, daß sich im 19.Jh. allenfalls im dritten Akt des Tristan (Enlisch-Horn-Solo)
ein(!) Gegenstück finden läßt; ansonsten ist man auf die Moderne der Nachkriegszeit
verwiesen.
Von der Einspielung durch das London Symphony Orchestra
kann ich - wie von allen Aufnahmen unter Sir Colin Davis - nur schwärmen: das ist,
quer durch alle Instrumentengruppen, auf höchstem technischem wie musikalischem
Niveau. Auch die Aufnahmetechnik ist von einer kaum zu schlagenden Qualität: wer
nicht glauben kann, daß man ein komplettes Orchester ins Wohnzimmer verfrachten
kann, wird hier eines Besseren belehrt.