2.2.2008

Walter Kempowski: Echolot

Bei meiner samstäglichen Shopingtour bin ich über Walter Kempowskis Echolot gestolpert. - das war nur Zufall, ich war in der Thalia-Buchhandlung im Alsterdorf auf der Suche nach irgend etwas Lesbarem.
Ich habe nicht die leiseste Ahnung, warum mir dieses Buch entgangen ist. Wenn ich eine Besprechung auch nur angelesen hätte, wäre ich sofort losgelaufen und hätte es gekauft. Erstausgabe war Ende 2001 - wahrscheinlich war die Welt zu sehr mit 9/11 beschäftigt, um die Ankunft eines Jahrhundertwerks[1] angemessen wahrzunehmen.


Kempowskis Kompendium beginnt am Vortag des deutschen Einfalls in die Sowjetunion am 22.6.1942 und endet gut 6 Monate später, am 31.12.1941. Dazwischen liegen ca. 700 Seiten, sortiert nach Tagen, gefüllt mit Tagebucheinträgen unterschiedlichster Zeugen jener Tage. Man liest Beiträge von gut bekannten Tagebuchschreibern (Göbbels, Klemperer, Thomas Mann), aber auch Feldpost von deutschen und russischen Soldaten. Es gibt Dokumente von russischen Prominenten (Berija, Shukow), von englischen Regierungsmitgliedern (Colville), von französischen Intellektuellen (Camus). All dieses ist Tag für Tag in einem wilden Kaleidoskop vermischt, und liefert das Bild eines jeden jener Tage in verblüffender Tiefenschärfe.
Ich assoziiere die Tagebücher Alma Malers aus den Jahren zwischen 1898 - 1902: wenn man dort stöbert, hat man das Gefühl, der Vorhang geht auf, und man sieht das Wien um die Jahrhundertwende in seiner blühenden Lebendigkeit, gesehen mit den Augen eines jungen, privilegierten Mädchens. Damit verglichen, schafft es Kempowski, eine Schlüsselstelle der europäischen Geschichte in nicht gekannter Plasizität "auf die Bühne zu bringen": und zwar nicht bloß aus der Sicht eines Einzelnen, sondern aus einer gleichsam universellen Perspektive.

Walter Kempowski
Das Echolot. Ein kollektives Tagebuch. Barbarossa '41.
Amazon-Link

[1]Das ist eine vorläufige Wertung, ich habe vierzig erste Seiten gelesen. Meine Bewunderung kann nur wachsen.
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