Walter Kempowski: Echolot
Bei meiner samstäglichen Shopingtour bin ich über
Walter Kempowskis Echolot gestolpert. - das war nur Zufall,
ich war in der Thalia-Buchhandlung im Alsterdorf auf der Suche nach irgend
etwas Lesbarem.
Ich habe nicht die leiseste Ahnung, warum mir dieses Buch entgangen ist. Wenn
ich eine Besprechung auch nur angelesen hätte, wäre ich sofort losgelaufen und
hätte es gekauft. Erstausgabe war Ende 2001 - wahrscheinlich war die Welt
zu sehr mit 9/11 beschäftigt, um die Ankunft eines Jahrhundertwerks[1]
angemessen wahrzunehmen.
Kempowskis Kompendium beginnt am Vortag des deutschen Einfalls in die
Sowjetunion am 22.6.1942 und endet gut 6 Monate später, am 31.12.1941.
Dazwischen liegen ca. 700 Seiten, sortiert nach Tagen, gefüllt mit Tagebucheinträgen
unterschiedlichster Zeugen jener Tage. Man liest Beiträge von gut bekannten
Tagebuchschreibern (Göbbels, Klemperer, Thomas Mann), aber auch Feldpost von
deutschen und russischen Soldaten. Es gibt Dokumente von russischen
Prominenten (Berija, Shukow), von englischen Regierungsmitgliedern (Colville),
von französischen Intellektuellen (Camus). All dieses ist Tag für Tag in einem
wilden Kaleidoskop vermischt, und liefert das Bild eines jeden jener Tage in
verblüffender Tiefenschärfe.
Ich assoziiere die Tagebücher Alma Malers aus den Jahren zwischen 1898 -
1902: wenn man dort stöbert, hat man das Gefühl, der Vorhang geht auf, und man
sieht das Wien um die Jahrhundertwende in seiner blühenden Lebendigkeit,
gesehen mit den Augen eines jungen, privilegierten Mädchens. Damit verglichen,
schafft es Kempowski, eine Schlüsselstelle der europäischen Geschichte in nicht
gekannter Plasizität "auf die Bühne zu bringen": und zwar nicht bloß aus
der Sicht eines Einzelnen, sondern aus einer gleichsam universellen
Perspektive.