Wahrnehmung, Sinne - Vernunft, Verstand

[Deprecated. Ich denke, ich habe mittlerweile bessere Argumente].

Meine Sinne ermöglichen mir die Wahrnehmung der objektiven Welt soweit, wie dieses für mein Überleben, als naturwüchsige Kreatur, notwendig ist. Nichts garantiert, daß dieses Zusammenspiel zwischen Sinnen und reflektierendem Verstand dafür geeignet ist, Wirklichkeit, geschweige Wahrheit zu erkennen. Die Benutzung der Sinne ist also problematisch, wenn es darum geht, Erkenntnis für den Verstand zu gewinnen.

Die Sinne stehen zwischen Verstand und Wirklichkeit: sie vermitteln zwischen ihnen. Dabei ist es mir unmöglich, über die Form jener Vermittlung in jenem Rahmen zu urteilen, den mein Verstand mir gibt (weil - vielmehr obwohl - nur durch meinen Verstand jenes "ich denke" unbestreitbar für mich - und nur für mich, jenseits jeder Objektivierbarkeit - gegeben ist).

Wenn ich mich selber wahrnehme, unterliegt diese Wahrnehmung denselben Regeln, wie die Wahrnehmung der objektiven Welt: ich bin mir selber Objekt. Es gibt die Sinne, die meinen Kontakt zur Außenwelt vermittleln; und es gibt den Blick auf mich selber, der - eben weil da ein fremdes Subjekt ( - ich! - ) auf etwas anderes "blickt" - vermittelt ist. Sinneswahrnehmung, wie Selbstwahrnehmung, ist problematisch, weil man keinen Maßstab benennen kann, mit dem man ihre Wirklichkeit bzw. Wahrheit messen könnte.

Der Blick eines anderen Menschen auf mich selber ist demnach nicht mehr oder weniger problematisch als jener, den ich auf mich selber richte: er berichtet von denselben Einschränkungen der Erkenntnis, die auftauchen, wenn ich mich selber wahrnehme: der Andere nimmt mich nicht weniger als Objekt wahr, als ich - in der Ansicht meiner selbst - dies selber tue.

Wenn ich meinen eigenen Blick auf mich selber anderen Menschen vermittele, berichte ich demnach über ein in sich Vermitteltes: über meinen eigenen Blick auf mich. Insofern teile ich nicht mich selber mit, sondern einen Standpunkt zu etwas außerhalb von mir. Wie ich davon erzähle, welchen Eindruck ein Bild, ein Stück Musik, ein Parfüm, das Betasten einer Statue oder der Geschmack eines guten Weins auf mich gemacht hat: ebenso erzähle ich von mir selber.

Dies alles wird ausgesprochen unübersichtlich, wenn man hinzunimmt, daß jedes Sprechen ein Gegenüber 1) erfordert und 2) in sich aufnimmt: wer redet, redet zu jemandem, und allein diese Haltung verändert auch das gesprochene Wort. Man spielt eine Rolle. - Nun kann man das leugnen und sagen: ich verhalte mich authentisch in der jeweils gegebenen Situation: ich lüge nicht verschweige nichts, konfrontiere mein Gegenüber mit dem, was ich jeweils unverstellt bin. So ein Standpunkt müßte aber die - oben aufgestellte und begründete - These vom Vermitteltsein jeder Wahrnehmung leugnen (weil er diese These ja für die Wahrnehmung des eigenen Ichs ausdrücklich in Abrede stellen müßte, wollte er „authentisch” sein).

Aber spätestens seit Kant weiß man ja ausführlich Bescheid über diese Zusammenhänge.

Nachtrag:

Pascal Mercier: Nachtzug nach Lissabon.

Aus welchen Gründen solch ein Buch in den Bestenlisten auftaucht, ist mir ein Rätsel (vielleicht sind wir ja schon soweit, daß die Minderheit der Lesenden wirklich so marginal zerstreut ist, daß ihre Stimme bei der Rangfolge der Bücher laut genug ist).

Mercier zitiert Montaigne, Essais, Zweites Buch:

Wir bestehen alle aus buntscheckigen Fetzen, die so locker und lose aneinanderhängen, daß jeder von ihnen jeden Augenblick flattert, wie er will; daher gibt es ebenso viele Unterschiede zwischen uns und uns selbst wie zwischen uns und den anderen.

Mercier schreibt dann, wie in einer Antwort auf dieses Zitat:

Menschen sieht man nicht wie Häuser, Bäume und Sterne. Man sieht sie in der Erwartung, ihnen auf bestimmte Weise begegnen zu können und sie dadurch zu einem Sück des eigenen Inneren zu machen. Die Einbildungskraft schneidet sie zurecht, damit sie zu den eigenen Wünschen und Hoffnungen passen, aber auch so, daß sich an ihnen die eigenen Ängste und Vorurteile bestätigen können. Wir gelangen nicht einmal sicher und unvoreingenommen bis zu den äußeren Konturen eines Anderen. Unterwegs wird der Blick abgelenkt und getrübt von all den Wünschen und Phantasmen, die uns zu dem besonderen, unverwechselbaren Menschen machen, der wir sind. Selbst die Außenwelt einer Innenwelt ist noch ein Stück unserer Innenwelt, ganz zu schweigen von den Gedanken, die wir uns über die fremde Innenwelt machen und die so unsicher und ungefestigt snd, daß sie mehr über uns selbst als über den Anderen aussagen.