Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum

Wie wenig gehört zum Glücke! Der Ton eines Dudelsacks. – Ohne Musik wäre das Leben ein Irrthum. Der Deutsche denkt sich selbst Gott liedersingend.

(Friedrich Nietzsche)

Wenn ich vor einem Werk der bildenden Kunst stehe und es betrachte, erlebe ich einen zeitlosen Gegenstand, vor dem ich mich – wie jeder Mensch – mit jeder Sekunde verändere. Meine Anteilnahme am Gegenstand wandert mit der Bewegung meiner Augen, die seine Oberfläche untersuchen; und während meine Erfahrungen im Umgang mit den visuellen Eindrücken möglicherweise eine neue Idee, eine neue Einsicht hervorbringt, steht es mir unverändert gegenüber. Aus diesem Spannungsverhältnis entsteht letztlich das, was Walter Benjamin als die „Aura“ des Kunstwerks bezeichnet[1].

Anders in der Musik. Sie verändert sich synchron mit meiner Wahrnehmung; sie lebt mit mir, in genau demselben Augenblick. Wenn ich etwas wie einen formalen Verlauf in ihr erkennen – sie „verstehen“ – will, muß ich einen Anker in die Zeit werfen: ich muß mich erinnern. Ich verstehe Musik so, wie ich meine eigene Existenz verstehe: im Versuch, einen Punkt in der Vergangenheit in Bezug zu setzten zum „Jetzt” – ein Punkt, der dann längst verloren ist und nur noch in meiner Erinnerung fortbesteht.

Nietzsche formuliert das Unbehagen an der so naheliegenden Faszination für Musik: jedes Leben ist ohne Musik undenkbar – und das ist eben keine Gnade, sondern ein Fluch. Er ist hier voller Spott: solches Leben gelingt nämlich auch dann, wenn man nur dem Pfeifen eines Dudelsacks hinterher hört (was in denkbar weitester Entfernung zu Nietzsches Ideal von Musik stehen dürfte, den Opern Richard Wagners). Der Spott trägt so weit, daß Nietzsche jenen, die auf Musik angewiesen sind, vorwirft, sich selbst Gott nur als in Musik versunken vorzustellen – als wenn Gott im Entferntesten auf jenen Trost verwiesen wäre, den Menschen in der Vergänglichkeit von Musik suchen.

  1. [1] Das ist nur eine grobe Vereinfachung – ich habe an anderer Stelle schon mehr zum Thema gesagt.

[Nachtrag:] Um einem möglichen Mißverständnis zuvorzukommen: ich versuche hier, ein Lieblingszitat vieler Musikbegeisterter in ein besseres Licht zu rücken. Das besagt keinesfalls, daß ich Nietzsches Einschätzung teile – ganz im Gegenteil: in meinen Augen bewegt er sich hier auf einem Gebiet, von dem er letztlich nichts versteht.