Der trainierte Mensch

Kultur macht das Leben nicht bequem, sondern unruhig. Schönheit ist ebenso beunruhigend wie das Grauen […] Wenn wir uns darauf einlassen, finden wir, dass ein Kunstwerk, ganz gleich wie fern uns seine Entstehung liegt, in einen gegenwärtigen Dialog mit uns tritt.

Wer sich auf solche Dialoge einlassen will, bedarf dazu einiger kultureller Voraussetzungen. Deshalb ist Kultur mit Bildung auf Gedeih und Verderb verschwistert. Zumindest seit der Aufklärung, deren Segen ihren Schrecken doch überwiegt, ist unsere Kultur ohne Bildung nicht mehr denkbar.

Wie sieht es heute damit aus?
Wir haben, grob gesagt, starke Bildungsinstitute ohne Kultur. Das liegt weder an den Lehrenden, noch an den Lernenden. Es liegt an dem grotesk falschen Verständnis von Bildung, das sich in der Wissensgesellschaft durchgesetzt hat.[…]
Bildung ist die Verwandlung geistiger Erfahrung in lebendiges Bewusstsein […] bildlich gesprochen: den eigenen Ort in der Welt zu finden und zu verstehen. Genau das ist offenbar kein Ziel der Pädagogik mehr – die Inhalte, die dafür nötig wären, werden zurückgedrängt zugunsten anderer Curricula, deren unmittelbar nützliche Anwendbarkeit im Berufsleben hervorgehoben wird. Der trainierte Mensch, der dabei entsteht, hat als Idealbild der sogenannten Informationsgesellschaft den gebildeten Menschen abgelöst.[…]

[…] Häufig stoße ich in Schulen, bei Lesungen vor Deutschleistungskursen […] auf Abiturjahrgänge, die erstaunlich wenig für ihr Fach gelesen haben, aber über ein ebenso verblüffendes wie überflüssiges germanistisches Fachwissen verfügen. Manche können eine Tautologie von einem Pleonasmus und diesen von einem Hendiadyoin unterscheiden, kennen aber keine Ballade, haben so gut wie nie ein Theaterstück ganz gelesen, oft nur einen Roman, mehr oder weniger vollständig; doch man hat ihnen die strukturellen Unterschiede der literarischen Gattungen und die Schubladen der Literaturepochen beigebracht.

(Gert Heidenreich; via NachDenkSeiten.)

Ich habe am Wochenende einige Fragen beantwortet, die eine Sechstklässlerin zu der nächsten Klassenarbeit im Fach Musik hatte. Da ging es allesamt um die Fähigkeit, Noten zu lesen: benenne Noten im Violin- und Baßschlüssel; vervollständige eine rhythmische Struktur so, daß sie im Taktmaß aufgeht; erkenne den Unterschied zwischen Achtel- und Vierteltriolen; etc. Das Problem, bei dem ich dann um Hilfe gebeten wurde, drehte sich um die korrekte Auflösung des Endtaktes eines auftaktigen Stückes.

Nochmals: sechste Klasse. In diesem konkreten Fall werden zwar immerhin drei Wochenstunden Musik geboten, aber, soweit ich das weiß, ist das Erlernen eines Musikinstruments dort keine Pflicht. Mehr noch: anscheinend wird dort nicht einmal regelmäßig gesungen.

Ganz offenkundig erwartet der Lehrer von den Schülern nicht im Ansatz ein Verständnis, warum sie Notenschrift lernen; es geht darum, antrainiertes „Wissen“ zu testen und mit einer Zensur zu versehen.

Gert Heidenreich hat im oben verlinkten Essay Grundsätzliches darüber gesagt, warum solch ein Vorgehen nicht nur offenkundiger Unsinn ist, sondern vorsätzliche Geistesverletzung an unseren Kindern.

Ich bin der Meinung, daß zu einer ordentlichen musikalischen Ausbildung unbedingt gehört, daß man Noten lernt – und zwar gerade in einer Zeit, in der musikalischer Analphabetismus nicht nur toleriert wird, sondern fast schon unabdingbar ist, wenn man nach „street credibility” als Popmusiker sucht. Auf den ersten Blick ist das ein anachronistischer Standpunkt, den ich erst begründen müßte. Eine Praxis der musikalischen Ausbildung, in der die Kinder Notenschrift gewissermaßen mit der Rute eingebleut bekommen, macht es mir freilich fast unmöglich, dafür noch gute Argumente zu finden.

Nachtrag: Ich gehöre keinesfalls ins Lager jener, die „Kultur” allein als Leistung des „Geistes” definieren; ein Zentrum meiner Texte liegt im Hinweis, daß es Bereiche von Wissen jenseits des Verstandes gibt; u.a. hier und – zentral – hier.