14.8.2011

Bürgerliche Werte

Frank Schirrmacher schreibt heute in der FAS (einst Vorzeigeblatt der sog. „bürgerlichen Mitte”):

Das komplette Drama der Selbstdesillusionierung des bürgerlichen Denkens spielt sich gerade in England ab. In einem der meistdiskutierten Kommentare[Link von mir] der letzten Wochen schrieb dort Charles Moore: „Es hat mehr als dreißig Jahre gedauert, bis ich mir als Journalist diese Frage stelle, aber in dieser Woche spüre ich, dass ich sie stellen muss: Hat die Linke nicht am Ende recht?“ Moore hatte das vor den Unruhen geschrieben und ohne jede Vorahnung. Ehrlich gestanden: Wer könnte ihm widersprechen?

[…]

Man muss hier nicht mehr aufzählen, was dann geschah, wer alles im Aufsichtsrat der Hypo Real Estate saß und was schließlich in der flehentlichen Bitte von Bankern um Verstaatlichung nicht endete. Entscheidend ist etwas anderes: Die CDU hat ihre an die Finanzmärkte ausgeliehenen immateriellen Werte, ihre Vorstellung vom Individuum und vom Glück des Einzelnen, niemals zurückgefordert. Sie hat nicht nur keine Verantwortung für pleitegehende Banken verlangt, sie hat sich noch nicht einmal über die Verhunzung und Zertrümmerung ihrer Ideale beklagt.

[…]

Ein Bundespräsident aus dem bürgerlichen Lager, von dem man sich ständig fragt, warum er unbedingt Bundespräsident werden wollte, schweigt zur größten Krise Europas, als glaube er selbst schon nicht mehr an die Rede, die er dann halten muss. Eine Ära bürgerlicher Politik sah die Deklassierung geistiger Arbeit, die schleichende Zerstörung der deutschen Universität, die ökonomische Unterhöhlung der Lehrberufe. Frau Schavan[Link von mir] ist inexistent. Dass Gesundheit in einer alternden Gesellschaft nicht mehr das letzte Gut sein kann, weil sie nicht mehr finanzierbar sein wird – eine der großen Wertedebatten der Zukunft, die jede einzelne Familie betreffen wird, zu der man eine sich christlich nennende Partei gerne hören würde, ja hören muss –: kein Wort, nichts, niemand.

Quasi gleichzeitig kommt die Topmeldung des Tages von der CDU in Schleswig-Holstein:

Ein Dreivierteljahr vor der Landtagswahl ist Schleswig-Holsteins CDU ihr Spitzenkandidat abhanden gekommen. Partei- und Fraktionschef Christian von Boetticher trat am Sonntagabend auf einer Sondersitzung des CDU-Landesvorstandes in Kiel zurück. Grund dafür ist eine Beziehung des Christdemokraten mit einem minderjährigen Mädchen.

[…]

Rechtlich ist eine freiwillige und einvernehmliche sexuelle Beziehung zwischen einem 16jährigen Mädchen und einem 39jährigen Mann nicht zu beanstanden. Carstensen wurde am Sonntag auf NDR 1 Welle Nord jedoch mit den Worten zitiert, die Affäre habe "nicht nur eine juristische Seite". Es gebe auch "moralische Anforderungen" zu beachten.

Man muß sich die Gleichzeitigkeit die Ereignisse nur ansehen; kommentieren muß man das längst nicht mehr.

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