8.1.2010

Lost

Bei einem Flugzeugabsturz gibt es achtundvierzig Überlebende, die sich auf einer von Dschungel überwucherten Insel mitten im Südpazifik wiederfinden. Anfangs erwarten sie, daß jede Stunde Hilfe auftaucht; nach einigen Tagen wird aber klar, daß die Funkverbindung zwischen Flugzeug und Tower mehr als zwei Stunden vor dem Absturz abbrach, und niemand weiß, wo sie sind. So gut es geht, richten sie sich am Strand ein, und versuchen, zu überleben.

Soweit ist das ein klassisches Setting irgendwo zwischen Robinsonade und „Herr der Fliegen“, wobei aber recht bald mehrere Abweichungen vom Schema deutlich werden. Zum einen verdankt sich dies der Struktur der Erzählung, die nicht einfach linear die Ereignisse auf der Insel wiedergibt, sondern immer wieder in die Vergangenheit zurückspringt und über die Herkunft der Gestrandeten berichtet. Dabei beschränken sich die Autoren nicht mit einer oder zwei Hauptfiguren - „Lost“ hat (ursprünglich) ein Hauptcast von nicht weniger als vierzehn Darstellern, deren Figuren alle ausgiebig ausgeleuchtet und charakterisiert werden.

Zum zweiten ist die Insel ein Ort, an dem außerordentlich bizarre Dinge geschehen: es gibt ein ominöses Monster, das gleich im Pilotfilm eine vermeidliche Hauptfigur tötet; man fängt einen Notruf auf, der von der Insel selber kommen muß und über dessen Urheber längere Zeit gerätselt wird; es finden sich unter den Überlebenden am Strand Menschen, die niemand zuvor an Bord des Flugzeugs gesehen hat; etc.

„Lost“ ist 2004 gestartet, und befindet sich z.Zt. In der sechsten, finalen Staffel. Die erste und zweite Staffel fand ich zuerst richtig spannend – nicht zuletzt aufgrund des durchaus originellen Erzählprinzips. Irgendwann hatte ich dann aber das Gefühl, mich in einem Computer-Adventure zu befinden, in dem es nur darum geht, immer mehr merkwürdige Dinge auf der Insel zu finden und das Rätsel ihrer Bedeutung zu lösen – mit dem Unterschied, nicht selber über das Geschehen bestimmen zu können, sondern bloß passiv zuzuschauen.

Ich habe kürzlich dann doch mit der dritten Staffel begonnen, weil der Cliffhanger am Ende der zweiten doch allzu sehr an meinen Nerven zerrte – und habe mich in einem Marathon wiedergefunden, in dem ich meinen diesjährigen Resturlaub aufgebraucht und in 3½ Tagen Staffel drei und vier komplett (insgesamt 38 Folgen a 40min) angesehen habe. Als wäre das nicht genug, mußte ich gerade die fünfte Staffel ordern, obwohl die DVD-Box noch viel zu teuer ist. Mit anderen Worten: ich habe mich in einen jener bedauernswerten „Lost“-Süchtigen verwandelt, die es nicht erwarten können, die nächsten Andeutungen und Hinweise zu bekommen, die vielleicht eines der zahlreichen Rätsel und offenen Enden lösen könnten.

Zu meiner Verteidigung kann ich sagen, daß es seit der dritten Staffel wirklich hervorragend konstruierte Folgen gibt, die, trotz der Sprünge zwischen den zeitlichen Ebenen, in sich selbst durchgängig stimmen. Aber auch für das übergeordnete Setting werden stets wichtige Weichen gestellt, ohne in Nebenhandlungen abzugleiten, nur um den Sendeplatz zu füllen (letzteres ist in den ersten beiden Staffeln öfters der Fall). Wenn eine Folge einmal besonders auffällt, dann stets in positivem Sinn – mir ist jedenfalls, nicht wie sonst, kein negativer Ausreißer begegnet.

Ich bin ein entschiedener Gegner der deutschen Angewohnheit, Filme zu synchronisieren, und in „Lost“ findet sich ein gutes Beispiel, warum. Sun und Jin sind ein koreanisches Ehepaar, wobei nur Sun englisch spricht. Untereinander reden die beiden in ihrer Muttersprache, und Sun muß für ihren Ehemann übersetzen. In der synchronisierten Fassung läuft das darauf hinaus, daß Sun mit zwei verschiedenen Stimmen spricht – dem Original, und der deutschen Synchronsprecherin. Dabei habe ich darauf verzichtet, noch einmal nach einer jener Stellen zu suchen, in denen Jin langsam englisch lernt – wie die Synchronisation mit diesem Problem umgeht, will ich gar nicht wissen. Von den üblichen Unstimmig- und Peinlichkeiten will ich nicht erst anfangen – Sawyer nennt Kate wahrscheinlich „Sommersprößchen” (orig: Freckles), wobei ich mich jetzt doch frage, wie man das wohl lippensynchron hinbekommt.

Vorsicht, Spoiler: Einen Höhepunkt stellt das Ende der dritten Staffel dar. In den „Flashbacks“ bekam man bis zu diesem Zeitpunkt immer eine neue Sicht auf eine zentrale Figur. Jetzt wird diese Erwartungshaltung bis zur kompletten Verwirrung ausgenutzt: Jack Shephard – der Arzt, der zum Anführer der Verschollenen wurde und bislang als nahezu ungebrochener Held erscheint – hat plötzlich einen Bart, ein erhebliches Alkoholproblem, und suizide Tendenzen. In der letzten Szene wird dann klar, daß hier nicht von Shephards Vergangenheit erzählt wurde, sondern man es mit einem „Flash Forward“ auf die Zeit nach der Rettung von der Insel zu tun hat.

Diese Blicke in die Zukunft tragen dann auch die Erzählstruktur der kompletten vierten Staffel – und ich bin gespannt, was die fünfte hier zu bieten hat.

(Der Eintrag in der Wikipedia ist eine echte Referenz zum Thema.)

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