10.11.2009

Qualität und Komplexität

Ich habe in den letzten Einträgen eine Reihe von Aspekten genannt, von denen man annehmen könnte, daß sie zur Beurteilung von Musik taugen, die dies aber letztlich nicht leisten können. Dabei bin ich eine positive Darstellung schuldig geblieben: mit welchem Verfahren kann man denn erkennen, ob ein Werk etwas taugt oder nicht? Was sind hier die Kriterien für „Qualität?” Der Grund ist recht einfach: solch ein Verfahren - solche Kriterien - gibt es m.E. nicht, mehr noch: das kann es auch gar nicht geben.

Die Frage lautet ja: wie läßt sich musikalische Qualität sinnvoll messen? Ich versuche es mit einer Analogie.

Wenn ich zwei Motorräder vor mir habe, und wissen will, welches davon schneller ist, hilft mir ein Blick auf die Motorleistung nur bedingt weiter – zu einer Aussage, die mehr ist als eine bloße Vermutung, kann ich so nicht kommen. Besser geht es, wenn ich die Maschinen auf eine Rennstrecke bringe, und dort einige Runden drehe. Dabei bin ich ja allenfalls ein mittelmäßiger Fahrer und gar nicht in der Lage, den Grenzbereich auszuloten – insofern ist die von mir gemachte Erfahrung ein Anhaltspunkt, aber kein Beweis. Der Sache komme ich schon sehr viel näher, wenn ich Valentino Rossi die Runden drehen lasse, oder besser noch, eine ganze Gruppe von Fahrern aus dem MotoGP-Zirkus. Wenn die dann übereinstimmend sagen, Maschine 1 ginge am Besten, habe ich ein Ergebnis, mit dem ich vollauf zufrieden bin.

Man kann einwenden, daß dies doch immer noch bloß eine Meinung ist, auch wenn die vielleicht von einem Experten vorgetragen und sogar von einer Gruppe geteilt wird. Objektiv nachgewiesen sei damit aber noch gar nichts. Warum, so läßt sich fragen, verwendet man nicht ganz einfach eine Stoppuhr?

Die Stoppuhr hilft hier jedoch überhaupt nicht weiter. Ihr Einsatz erweckt lediglich den Anschein von Objektivität und legt einen Schleier über das eigentliche Problem. Die Frage nach dem schnellsten Motorrad sollte man in seiner Komplexität nicht unterschätzen. Es geht hier keinesfalls nur um die Leistung des Motors, sondern generell um Eigenschaften im Fahrverhalten. Wie liegt die Maschine auf der Straße, wie reagiert sie auf Bodenwellen, wie präzise lassen sich die Bremsen dosieren?, etc.pp. Man stellt hier die Frage nach „Qualität“, die sich letztlich nicht in einzelne Teilaspekte herunter brechen läßt. Sicher – man kann mangelnde Dosierbarkeit der Bremsleistung korrigieren, indem man am Bremshebel schraubt – möglicherweise hat man aber die falschen Reifen aufgezogen. Wenn man diese wechselt, stimmt plötzlich etwas in den engen Kehren nicht, oder man hat zu wenig Gripp beim Herausbeschleunigen aus der Kurve. Etc.pp. – ein Motorrad ist ein klassisches Beispiel für eine nicht-triviale Maschine, deren Komplexität eine Analyse prinzipiell unmöglich macht.

Außerdem – und das ist der springende Punkt – hat man es hier mit der Geschicklichkeit von Menschen zu tun, die einfach dadurch, daß sie handeln, eine Maschine beherrschen, deren Funktionieren der Verstand nicht begreifen[1] kann. Zur Komplexität der Maschine kommt noch die Komplexität der Operationen hinzu, mit denen man sie bedient. Niemand kann konkret und in allen Einzelheiten erklären, was ein Rennfahrer eigentlich tut – dieser kann aber recht zuverlässig darüber Auskunft geben, welches Motorrad besser „geht”. Wenn ich dieser Auskunft des Fahrer mißtraue und zur Stoppuhr greife, ist es sogar möglich, daß er bewußt sein Tempo manipuliert, um mich vorzuführen, ohne daß ich dies bemerken könnte. Es bleibt mir gar nichts anderes übrig, als auf seine Expertise zu setzen – etwas Besseres ist schlicht nicht zu haben.

(Den Übertrag auf das Gebiet der Musik bleibe ich zunächst einmal schuldig.)

  1. [1] Im "Begreifen" liegt das "Greifen", das in diesem Fall der Hand bzw. dem Körper gelingt, nicht aber dem Verstand.
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