25.6.2009

Notenschrift

[Ich hatte mir schon lange vorgenommen, etwas über Notenschrift zu schreiben - als Entwickler des Noten- bzw. Score-Editors von Cubase bin ich mit dem Thema schließlich aus einem Winkel befaßt, den relativ wenige Menschen auf diesem Planeten mit mir teilen. Aber wie es oft ist: abends habe ich meistens keine Lust mehr, noch über das nachzudenken, was mich schon den ganzen Tag beschäftigt.

Ich raffe mich auf, und mache einen Anfang. Dabei gehe ich von einem Leser aus, der keine Noten lesen kann.]


Rechts sieht man zwei Darstellungen einer einzelnen Note im Key-Editor von Cubase - eine ganze Note, vier Schläge lang. Zuerst erscheint sie auf der »1«, im Bild daneben auf der »1 und«, eine Achtel später also. Die beiden Darstellungen unterscheiden sich nicht großartig, man erkennt die absolute Länge der Note auf einen Blick, und der verschobene Anfang wird deutlich, weil die Note gegen den Hintergrund verschoben ist.

Komplett anders sieht das aus, wenn man dieselben beiden Beispiele in der Notendarstellung betrachtet. Aus einer einzelnen Note werden plötzlich drei, die mit einem Haltebogen miteinander verknüpft sind, wobei sie noch ganz verschieden aussehen. Es gibt zwei unterschiedliche Notenköpfe, hinter einem steht noch ein Punkt, und am Hals der letzten Note baumelt ein Fähnchen. Nicht nur das: auch die leeren Räume, die Pausen, sind von unterschiedlicher Gestalt, und im letzten Takt reicht es nicht aus, einfach nur ein Symbol aufzuschreiben, nein, es müssen gleich drei verschiedene sein - und das, nur um auszudrücken, daß hier gar nichts gespielt wird. - Das ist kein konstruiertes Beispiel, um irgend einen besonderen Wahnsinn vorzuführen, sondern ein unkomplizierter Blick auf den Alltag in der Notenschrift - in der Praxis gibt es weit verwirrendere und komplexere Fälle.

Auf den ersten Blick ist das natürlich bizarr. Es müßte, meint man, doch wesentlich einfacher sein, Musik so zu lesen und zu notieren wie ganz oben, beim Key-Editor. Warum benutzt man solch ein krudes System, das man erst nach langer Übung beherrscht, und das ja nicht einfach deshalb seine Legitimation noch heute hat, weil man es seit einigen hundert Jahren benutzt? Manch andere Erfindung der Vergangenheit hat schließlich einem neuen, unkomplizierteren Modell weichen müssen - warum nicht die Notenschrift?

Ein Teil der Lösung des Rätsels findet man, wenn man sich klar macht, daß die beiden Beispiele - die Note startet auf der vollen Zählzeit, dann startet sie eine Achtel später - zwei Fälle beschreiben, die völlig unterschiedlichen musikalischen Sinn ergeben. Die Darstellung im Key-Editor verschleiert mehr, als sie verdeutlicht, weil sie eine Simplizität vorgaukelt, die es hier gar nicht gibt.

Ein rhythmisches Ereignis, das auf einem Off-Beat beginnt, hat eine komplett andere Qualität als eines auf einem Down-Beat. Das gilt nicht nur für den Anfang der Note, sondern auch für ihr Ende: der Start einer Pause ist ebenso ein rhythmisches Ereignis wie der Start einer Note. Das vergißt man leicht, kann sich diese Tatsache aber in Erinnerung rufen, wenn man einem guten Chor zuhört. Dort beenden alle Sänger einer Stimme im selben Moment ihre Töne, möglicherweise noch mit der Schließung der letzten Silbe mit einem Konsonanten. Diese Konsonant-Betonungen sind leicht hörbar - und wenn man dies einmal gehört hat, hört man den rhythmische Akzent einer Endung auch dann, wenn er nicht extra betont wird.

[Wird fortgesetzt.]

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