10.6.2009

Die Geschichte vom MotoGP-Racer, der den 125er-Roller nicht einholen kann

Einer meiner Freunde hat Valentino Rossi eine Wette angeboten: er behauptet, daß es Rossi nicht möglich sei, ihn auf seinem 125er-Roller zu überholen, sofern man ihm einen Vorsprung von nur hundert Meter gewährt. Rossi könne seine Rennmaschine nehmen, was immer: nur der Vorsprung sei Bedingung.

Ich habe ihn zuerst für verrückt erklärt - zumal er bereit zu sein scheint, einen Batzen Geld zu setzen -, bin mir nach seiner Erklärung aber nicht mehr sicher, ob er nicht womöglich doch gewinnt. Wenn, so sein Argument, Rossi die ersten hundert Meter zurückgelegt hat, sei er selber ja auch vorangekommen - vielleicht nicht hundert Meter, sondern, weil er langsamer fährt, ein bißchen weniger, aber doch eine definierte Strecke. Wenn Rossi nun an dem zweiten Punkt vorbeikommt, sei auch der Roller nicht mehr an diesem Ort, sondern ein Stück weiter. So gehe das endlos immer weiter fort: wenn Rossi eine Stelle passiert, an der der Roller vorher war, sei der selber nicht mehr dort, sondern ein Stück voraus.

Eigentlich weiß man, daß da etwas nicht stimmen kann - aber wie widerlegt man das Szenario? Man kann sogar nachrechnen, daß das aufgeht. Nehmen wir der Einfachheit halber an, das Rennmotorrad fährt 100km/h, und der Roller ist nur halb so schnell, 50km/h. Die ersten 100m hat das Rennmotorrad also nach 3,6sec genommen, der Roller hat dann erst 50m zurückgelegt. Für diese 50m braucht Rossi 1,8sec, mein Freund ist jetzt aber 25m vor ihm. Usw. - Rossi hat ein ernsthaftes Problem und kommt nicht vorbei.

Der Punkt ist, daß man hier die Perspektive eines Beobachters einnimmt, der unendlich oft hinsieht. Erst sieht er den Zustand nach 3,6sec, dann nach 1,8sec, und dann in immer kürzeren Intervallen, bis sie selbst im Bereich von Millisekunden nicht mehr zu messen sind. Man benötigt aus dieser Sicht eine unendliche Anzahl von Beobachtungen - aus dieser Perspektive kann Rossi tatsächlich niemals überholen.

Nun gibt es aber nicht nur einen möglichen Beobachter, der sich dieses bestimmte Vorkommnis ansieht, welches durch sein Beobachten objektiv richtig beschrieben wäre. Man kann sich nämlich auch einen anderen Beobachter vorstellen, der dasselbe Szenario in gleichförmigen Zeitschritten (z.B. im Intervall von 1sec) betrachtet (dann ist das Rennen nach kurzer Zeit vorbei), und dessen Wahrnehmung das Ereignis ebenso richtig beschreibt.

Dieses Problem ist natürlich nicht ganz neu, sondern meine etwas einfältige Übertragung von Zenons Paradox („Kann Achilles die Schildkröte überholen?”) in die Neuzeit. Auch die Auflösung stammt nicht von mir - ich habe sie bei Rolf Todesco geklaut. Jedenfalls bildet sie ein hervorragendes Beispiel, wie man mit konstruktivistischen Mitteln Paradoxien äußerst elegant und rückstandsfrei auflösen kann. Man muß nur darauf verzichten, die Welt als objektiv gegeben vorauszusetzen, sondern sich davon überzeugen lassen, daß sie durch Beobachtung erst erzeugt wird (aber da läuft man ja spätestens seit Kant letztlich offene Türen ein).

Ich habe gerade erst Rolf Todescos Seiten entdeckt, kann die aber jetzt schon jedem empfehlen[1], der sich mit Systemtheorie beschäftigt. Da gibt es u.a. ein Begriffslexikon, das zentrale Begriffe so erklärt, daß man die auch wirklich versteht, weil sie mit vernünftigen Beispielen daherkommen und sich nicht hinter einer abstrakten Begrifflichkeit verstecken mit der Ausrede, dies wäre der Preis, den man für begriffliche Schärfe zu zahlen habe. Seitdem ich z.B. im Text über Kontruktivismus stöbere, beginne ich endlich zu begreifen, was Systemtheorie tatsächlich im Schilde führt.

Was mir die Seiten zusätzlich sympathisch macht, ist der Umstand, daß Todesco Motorrad fährt und versucht, dieses Thema auch theoretisch fruchtbar zu machen.

  1. [1] Mit der Einschränkung, daß es sich einmal mehr um eine Frame-Hölle handelt. Meine Links - die ziemlich mühsam zu extrahieren sind - führen demzufolge auf Seiten, denen die Navigation fehlt.
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