Philipp Blom - Der taumelnde Kontinent - Europa 1900-1914

Im Vorwort fordert Philipp Blom seine Leser auf, sich auf ein Experiment einzulasssen und alles zu vergessen, was sie über die Zeit nach 1914 wissen, den ganzen Komplex aus Krieg und Völkermord, der noch folgen wird, und von dem die Zeitgenossen keine Ahnung hatten. Er versucht dann auch, die Zeit zwischen 1900 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs nicht als konsequenten Weg in die Katastrophe zu sehen, sondern sie ohne jede Teleologie aus sich selbst zu begreifen. Sein Argument, man könne ja auch die Zeit zwischen 1990 und 2001 schwerlich verstehen, wenn man sie als konsequente Vorbereitung der Ereignisse von 9/11 betrachtet, leuchtet ein, und sein Versuch einer vorurteilslosen Schilderung trägt überraschende Früchte.

In vierzehn Kapiteln, die als Überschriften die Jahreszahlen von 1900 bis 1914 tragen, nimmt er ein im jeweiligen Jahr stattfindendes Ereignis zum Anlaß, ein bestimmtes Themengebiet genauer zu untersuchen. Politische und militärische Zusammenhänge kommen auch zu ihrem Recht – das Jahr 1906 etwa mit der Taufe des ersten Schlachtschiffs der „Dreadnought“-Klasse bildet den Anlaß, den wahnwitzigen Rüstungswettlauf jener Jahre nachzuzeichnen. Sie spielen sich aber keineswegs monothematisch in den Vordergrund, wie man das von anderen historischen Darstellungen der Vorkriegsjahre gewohnt ist. So gibt es z.B. ein Kapitel über „Träume und Visionen”, in dem auch der Mystizismus eine Rolle spielt, der, angestoßen vom Wirken der Madame Blavatsky (1831-1891 - „Isis entschleiert”), Figuren wie Rudolf Steiner (1861-1925) nach oben spülte. Ein anderes berichtet über die Suffragetten-Bewegung, in der die Frauen mit Vehemenz um ihre Gleichberechtigung kämpften und versuchten, sich aus der - aus heutiger Zeit unglaublichen - absoluten Abhängigkeit von ihren Ehemännern zu lösen. Eine andere große Erzählung, den Völkermord im Kongo, hatte ich bereits kürzlich zusammengefaßt.

Es geht also darum, der Befindlichkeit eines Zeitalters nachzuspüren, das vom dramatischen Wachsen der Städte und ihren an nervösen Erschöpfungszuständen leidenden Bewohnern geprägt wurde, in dem eine globalisierte Wirtschaft die Arbeiterschaft zum Rädchen der Maschine machte, lange bevor Charlie Chaplin das in „Modern Times“ zum Thema machte, und in dem letztlich jenes Bild des modernen Menschen geprägt wurde, wie wir es heute kennen. Dabei stellt sich heraus, daß sämtliche Aspekte des Lebens sich komplett änderten, und zwar noch bevor der Krieg alle Werte hinfällig machte und das Zeitalter der Herrschaft des Adels endgültig beendete.

Ich hatte bisher gedacht, mich in der Zeit des Fin de siécle ganz gut auszukennen. Bei meiner Beschäftigung mit der – äußerst fruchtbaren – Musik jener Tage habe ich z.B. auch Briefe von Gustav Mahler (1860-1911) und die „Tagebuch-Suiten“ (1898-1902) seiner Frau Alma gelesen, Dokumente also, die dieses Zeitalter sehr lebendig werden lassen. Trotzdem hat Blom eine Fülle mir bislang unbekannter Fakten ausgegraben und in einen schlüssigen Zusammenhang gebracht, die ein völlig neues Licht auf die Epoche werfen.

Darüber hinaus ist das alles in großen Bögen und einer makellosen Sprache erzählt – das ist nicht nur „gut lesbar“ geschrieben, wie sich das für einen angelsächsischen Wissenschaftler gehört, sondern überschreitet über weite Stecken die Meßlatte, die man bei literarischen Werken anlegen würde. Nicht zuletzt konnte er sein Buch selbst übersetzen – man bekommt also die Sicht eines Engländers in geschliffenem Deutsch.