Theorie und Abstraktion (4)

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Die wissenschaftliche Methode ist völlig klar und unmißverständlich formulierbar. Allerdings ist der Betrieb der Wissenschaften eine gesellschaftliche Praxis, die eigenen Regeln folgt. Sie findet an keiner Stelle im luftleeren Raum statt, wo Wissenschaftler allein ihren hehren Zielen folgen und unbeeindruckt von den Interessen all jener agieren, die sie letztlich bezahlen. Ich rede hier keineswegs nur vom Einfluß der Industrie auf Wissenschaft und Forschung - der ist umfassend und verheerend genug. Auch die scheinbar „freie“ Forschung an den Hochschulen findet in einem gesellschaftlichen Bezugsrahmen statt, der einen Sinnzusammenhang konstituiert, der nichts mit Wissenschaft, aber viel mit sozialen Beziehungen zu tun hat, und ganz eigene Zwänge mit sich bringt.

Man muß fürchterlich aufpassen, diese beiden Ebenen nicht zu verwechseln oder auch nur miteinander zu verzahnen. Alle Mängel des „Betriebs der Wahrheitsproduktion“ können nicht dazu dienen, die Methode zu kritisieren, die Wahrheit hervorbringt. Umgekehrt kann das (unbedingt erwünschte) Beharren von Wissenschaftlern auf den Besitz der einzigen Methode, die etwas wie Wahrheit erst möglich macht, nicht dazu dienen, ihr konkretes Handeln außerhalb jeder Kritik zu stellen.

Tatsächlich finden sich in der Geschichte der Wissenschaften ja immer wieder Episoden, angesichts derer es schwer fällt, am wissenschaftlichen Theoriebegriff in seiner abstrakten Herrlichkeit ungebrochen festzuhalten. Im Namen der Wissenschaft sind wahre Monstren erschaffen worden, die unmittelbare Folgen für die gesellschaftliche Wirklichkeit hatten, immer mit dem Verweis auf die objektive Wahrheit wissenschaftlichen Erkennens. Die Theorie, daß erworbene Fähigkeiten vererbt werden und zur Entwicklung der Arten führen, war 1910 – vor der Entdeckung der Mechanismen der zufälligen Mutation – Stand der Wissenschaften, und wurde von Francis Galton aufgegriffen, um seine Idee der genetischen Verbesserung der Menschheit durch Zuchtwahl zu untermauern. Es dauerte nicht lange, bis sein Konzept der Eugenik zu einer gesellschaftlichen Debatte führte, bei der die Annahme, es sei legitim, missgebildete Babys zu töten, nicht einmal die radikale Position darstellte[1] – diese Debatte hat der Rassenideologie der Nazis maßgeblich den Boden bereitet und ihr Plausibilität verschafft.

Es gab und gibt immer Situationen, wo das „Soziale System“, in dem Wissenschaft entsteht, eine Eigendynamik entwickelt, die krude Folgerungen salonfähig macht, obwohl sie wissenschaftlichen Anforderungen letztlich nicht entsprechen. Auf längere Sicht hat sich das System aber immer wieder stabilisiert und korrigiert – und zwar durch Rückgriff auf die eigentliche Natur der wissenschaftlichen Methode, und nicht durch ihre Revision.

Darüber hinaus - und da liegt m.E. der eigentliche Knackpunkt der ganzen Debatte - kann man aber festhalten, daß etwas nicht moralisch richtig ist, nur weil es sich als wissenschaftlich wahr erweist.[2]

  1. [1] Vergl. Philip Blom: Der taumelnde Kontinent – Europa 1900-1914. München 2009. S.388 ff.
  2. [2] Das berühmteste Beispiel, mit dem man diese These untermauern kann, kennt jeder: das Manhatten-Projekt.
Dieser Eintrag ist aus zwei Kommentaren zusammengebaut, die ich in einer Diskussion über den Begriff von Wissenschaft bei den ScienceBlogs abgegeben hatte.