Improvisation in der Musik (17)

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In einer Improvisation muß man das, was man spielen will, im Vorhinein hören. Wenn man z.B. über einen C-Dur-Akkord ein „E” spielen will, hilft es wenig, wenn man nur theoretisch weiß, daß es sich um die Terz des Akkords handelt, und deshalb schon „irgendwie” passen wird. Man muß innerlich auf die Wirkung vorbereitet sein, und um die Farbe, die sich ergeben wird, schon vorher wissen. Wenn man die Spannung einzelner Töne nicht schon kennt, bevor man sie spielt, ist es letztlich unmöglich, so etwas wie einen Spannungsbogen aufzubauen, der von einem Ton über den nächsten immer weiter reicht. Andernfalls wäre man nur am Raten, ob das, was man als nächstes zu spielen plant, in einem „sinnvollen” Verhältnis zu dem stehen wird, was man gerade spielt und hört. Man muß dieses Verhältnis antizipieren, um so etwas wie einen Anschluß zu finden, in dem die einzelnen Töne sich zu einer nahtlosen „Erzählung” verdrahten.

Man kann das auch umdrehen: was man nicht hört, kann man auch nicht spielen. Das gilt zumindest dann, wenn man unter „Spiel” kein sinnloses Gedaddel versteht, sondern einen kontrollierten Umgang mit dem eigenen Instrument und dem musikalischen Material, bei dem dann etwas beim Hörer ankommt, das „Sinn” nicht bloß behauptet. Auch ein Anfänger kann auf einem Klavier mit den Fäusten herumhauen. Ein Cecil Taylor, der gelegentlich dasselbe macht, unterscheidet sich von diesem letztlich nur dadurch, daß er es hört, bevor er es tut - er hat eine klare Vorstellung vom Klang, bevor er ihn produziert.

Das gilt auch im Bereich der Rhythmik. Jemand, der die Offbeats nicht innerlich hört, die er spielt, ist nur am Schwimmen: er probiert letztlich nur auf gut Glück, ob er sie trifft. Normalerweise bewegt sich ein Solist im Jazz ja im Kontext einer Gruppe, in der das Schlagzeug ein leicht erkennbares Metronom ersetzt. Wenn das entfällt - etwa, weil der Solist plötzlich alleine spielt, oder das Schlagzeug eben keinen Metronomersatz mehr bietet, sondern sich an den Improvisationen beteiligt - erweist sich erst, ob ein Virtuose sich tatsächlich souverän auf der rhythmischen Ebene bewegt, oder ob er das Spiel im „Groove” nur simuliert.

Ich hatte in meinem Studium einen Kurs belegt[1], in dem über mehrere Semester genau eine Sache trainiert wurde: Downbeats klatschen (oder klopfen), während von einem Metronom Offbeats kommen. Wenn man Offbeats wirklich hören kann, sollte es ja kein Problem sein, die dazugehörigen Downbeats zu markieren. - Es ist außerordentlich aufschlußreich, das mal praktisch zu testen.

Groove

Das Beispiel beginnt mit einem stumpfen Disco-Rhythmus - Bassdrum auf 1+3, Snare auf 2+4, und die HiHat mit 16teln. Bass+Snare verschwinden nach 4 Takten - es bleibt die HiHat, wobei allmählich die Achtel der Downbeat-Ebene ausgeblendet werden, bis sie ganz verschwinden. Aufgabe: klatsche die Downbeats (die Achtel) immer weiter. Ich würde mich sehr wundern, wenn es jemandem auf Anhieb gelingt, diese Übung bis zum Schluß durchzustehen, ohne „umzusteigen” - sprich: statt auf den Downbeats „dagegen zu halten”, früher oder später mit der HiHat auf den Offbeats mitzuklatschen (und sie damit zu Downbeats umzudeuten). - Dabei spielt das Beispiel gerade mal im Tempo von 90 BPM. In vielen populären Stilistiken sind Tempi von 120 BPM und mehr die Regel - und wenn es schneller wird, nimmt die Schwierigkeit, die Offbeats zu hören, nicht linear, sondern quadratisch zu.

  1. [1] Bei Gerd Wennemuth.