30.4.2009

Theorie und Abstraktion

In den Naturwissenschaften geschieht Theoriebildung durch Beobachtung, die man zu verallgemeinern versucht. Im Idealfall bekommt man ein begriffliches oder mathematisches Modell, das man mit der Wirklichkeit - mittels Experiment - abgleichen kann, und das es erlaubt, auf zukünftige Vorkommnisse Vorhersagen zu treffen. Dabei geht es natürlich nicht darum, daß nur das gilt, was den Sinnen unmittelbar zugänglich ist. Das von der Relativitätstheorie vertretene Bild vom Universum etwa läßt sich nicht unmittelbar „sehen” oder „anfassen”. Trotzdem lassen sich Experimente anstellen, die seine Gültigkeit beweisen.

Eine Theorie bietet eine Abstraktion der Wirklichkeit. Eine Abstraktion - und das muß man sich gelegentlich bewußt machen - ist immer eine Vereinfachung eines komplexen Zusammenhangs oder Zusammenspiels. Die Mathematik der Relativitätstheorie mag schwer verständlich sein. Dennoch ist sie der Versuch, ein komplexes Problem auf eine Formel zu reduzieren. Eine Abstraktion versteckt komplexe Zusammenhänge, und ermöglicht dadurch, daß diese gewissermaßen „beweglich” werden. Wenn ich einen Begriff für etwas habe, das sich seinerseits erst durch viele Sätze erklären läßt, muß ich nicht immer diese vielen Sätze sprechen, sondern nur diesen einen Begriff. Dadurch kann ich ihn überhaupt erst in neue Zusammenhänge verfrachten und benutzen: ich kann die dahinter verborgene Komplexität dann temporär vergessen, obwohl sie inhärent immer mitgedacht bleibt.

Das gilt für die Physik, und das gilt ebenso für die Soziologie. In beiden Disziplinen gelten die gleichen Maßstäbe: was sich an der Wirklichkeit nicht messen läßt, fliegt raus, und was keine Vorhersagen auf zukünftige Ereignisse erlaubt, ist vielleicht nicht falsch, aber redundant und wertlos. Auch der formale Unterschied bei den Abstraktionen ist gar nicht soweit voneinander entfernt, wie man gerne glauben will. Gesellschaftswissenschaftliche Theorien, die mit mathematischen Formeln arbeiten, sind zwar glücklicherweise nicht gerade breit gesät. Das liegt aber lediglich daran, daß die Ebene der Abstraktionen eine andere ist. Während die Physik gute Gründe hat, sich Sprache und Begriffe vom Leib zu halten, so gut das irgend geht, sind dies für die Soziologie der Gegenstand. Das grundlegende Verfahren bei der Theoriebildung - Abstraktion zur Reduzierung von Komplexität - ist jedoch jeweils dasselbe.

In der objektorientierten Programmierung ist das Abstrahieren von Zusammenhängen sozusagen der Grundgedanke beim Software-Design. Dabei geht es in erster Linie um die Trennung zwischen Implementierung und Interface: ein (als Teil eines Programmes vorliegendes) »Object« definiert Daten und implementiert Methoden, die diese manipulieren, sowie ein funktionales Interface, das von außen zugänglich ist. Ein Beispiel wäre ein »Object«, das Zeichenketten zu Computern sendet und entgegen nimmt, die miteinander vernetzt sind. Das Interface, das der »User« (der Mensch hinter der Tastatur, oder aber nur ein anderer Teil des gleichen Programms) zu sehen bekommt, besteht lediglich aus einer „Write” sowie eine „Read”-Methode. Die interne Implementierung des »Objects« besteht dann vielleicht aus tausenden Zeilen Code, mit denen der Netzverkehr in Form einer komplexen State-Machine initiiert, durchgeführt, überwacht und terminiert wird, wobei womöglich noch unterschiedliche Netzwerk-Protokolle unterstützt werden. Der User muß all das nicht mehr sehen oder ins Kalkül aufnehmen. Die Abstraktion erlaubt es ihm, sich wichtigeren Dingen zuzuwenden - was er mittels des Netzes schreiben oder lesen will, etwa.

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