Improvisation in der Musik (10)

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Der vorgestellte „Bausteine”-Ansatz hört sich zunächst an wie pure Theorie, die keine praktische Bedeutung hat. Tatsächlich ist allein der Umfang des Materials (das ich hier nur andeutungsweise skizziert habe) derart gewaltig, daß man sich kaum vorstellen kann, daß man es einüben und tatsächlich in einem Solo verwenden kann. Zur Vielgestalt der erwähnten Muster kommt ja hinzu, daß man sie in allen zwölf Tonarten beherrschen muß - und zwar gestartet von jedem der fünf Töne der Pentatoniken. Schließlich hilft es wenig, wenn man auf einen Akkordwechsel trifft, für den neuen Akkord auch das neue Material weiß, aber nur mit einem Sprung dorthin wechseln kann, weil man es nur von Grundton zu Grundton spielen kann.

Es gibt einen weiteren zentralen Einwand, der dagegen spricht, daß man es hier mit einem Modell zu tun hat, das für echtes Improvisieren taugt. Schließlich muß man nicht nur das Material und die Übergänge geübt haben, sondern man muß das alles auch noch so verinnerlichen, daß es völlig spontan abrufbar ist. Ein bewußtes Abrufen einer bestimmten Folge ist letztlich nichts anderes als das Abfeuern eines zuvor einstudierten Patterns. Wenn man tatsächlich mit diesen (und ähnlichen, anderen) Konzepten improvisieren will, müssen sie so selbstverständlich sein wie das Spielen einer C-Dur-Tonleiter - und zwar in der kompletten Komplexität, die dadurch entsteht, daß man zwischen Gruppierungen und verschiedenen Tonarten nahtlos wechselt.

Dennoch ist dies möglich - allerdings um den Preis, wirklich viel am Instrument zu arbeiten. Von Mike Brecker ist bekannt, daß er streckenweise acht Stunden täglich mit dem Saxophon im Kleiderschrank gestanden hat, um die Nachbarn nicht zu veranlassen, die Polizei zu rufen - und Pat Metheny hat nach einem Auftritt den Abend nicht etwa an der Hotelbar ausklingen lassen, sondern sich in sein Zimmer zurückgezogen, um Gitarre zu üben.