28.3.2009

Improvisation in der Musik (6)

(Themenanfang)

Die Kenntnis der zu einem Akkord gehörigen Skala kann nicht schaden - sie hilft aber letztlich nicht dabei, sinnvolle Linien über eine Akkordfortschreitung zu finden. Ganz schlimm wird es, wenn man eine Folge von Akkorden darauf untersucht, worin ihr kleinster gemeinsamer Nenner besteht, nach dem Moto: über diese vier Takte könne man immer die C-Dur-Skala spielen. Es gibt keinen Könner, der so denkt, und wenn man im Unterricht trotzdem solche Modelle vermittelt, tut man seinen Schülern letztlich keinen Gefallen – das Ignorieren der Wechsel zwischen den Akkorden schafft sie nicht aus der Welt, und das Ergebnis solcher Improvisationen klingt zwangsläufig zum Weglaufen. Wenn man schon über Changes spielen will, muß man sie auch ernst nehmen, und zwar nicht nur jeden Akkord für sich, sondern den Spannungsverlauf der kompletten Folge.

Dabei macht man zuerst die Entdeckung, daß die unterschiedlichen Töne, aus denen ein Akkord aufgebaut ist, auch in einem unterschiedlichen Grad an Spannung zu ihm stehen. Grundton und Quinte etwa bilden das spannungslose Gerüst, Terz und Septe geben die Farbe. Die None hat eine ganz eigene Charakteristik, die – als Quinte über der Quinte – keine rechte dissonante Wirkung hat, obwohl sie zu den „Tensions” gehört. „11” und „13” schließlich sind echte Spannungstöne. Dann gibt es - je nach Funktion eines Akkords – unterschiedliche Möglichkeiten der Alteration: ein Dominantseptakkord bietet zahlreiche Möglichkeiten, Quinte, None, „11” und „13” hoch bzw. tief zu alterieren. In einem Mollakkord funktioniert das überhaupt nicht, weil sofort die Charakteristik in eine andere (meist dominantische) Richtung kippen würde. Ein Akkord auf der Subdominante hat mit der hochalterierten „11” eine ganz eigene Spannungsnote - usf.

Ich deute das nur kurz an und breche ab, bevor mir nur noch die Spezialisten folgen können. Ich will an dieser Stelle nur darauf hinaus, daß in der Akkordstruktur eines Stückes jeder Ton eine bestimmte Spannung erzeugt, die man kennen muß, wenn man nicht an dieser Struktur vorbeispielen will. Eine Note, die im erwähnten viertaktigen Beispiel in C-Dur im ersten Akkord völlig spannungslos war, kann im nächsten Akkord plötzlich zu einer scharfen Tension werden, womöglich sogar „falsch” sein (im Sinne von: zerstörerisch für den Charakter des Akkordes). Es bleibt also nichts übrig, als sich für die Übergänge zu interessieren - wenn man dies tut, hat man sich zur Belohnung noch gleichzeitig vom vertikalen Denken verabschiedet, das dazu verführt, Skalen (oder auch Akkordbrechungen) hoch und runter zu daddeln, und ist dabei, sich in horizontalen Linien zu bewegen – in Melodien also.

Eine gute Möglichkeit, dieses Denken vorzubereiten und zu trainieren, besteht in der Beschäftigung mit sog. „Guidelines”. Darunter versteht man Notenfolgen, die mit minimalen Sprüngen (Halb- oder maximal Ganztönen - bestenfalls läßt man den Ton unverändert liegen) durch eine Akkordstruktur führen. Dabei gilt: pro Akkord eine Note, und die komplette Linie soll sich auf ein und demselben „Spannungsplateau” bewegen, also z.B. nur aus Terzen, Septen oder Nonen bestehen. Man wird entdecken, daß dies – im Bereich der Funktionsharmonik – immer funktioniert, und daß es idR. sogar mehrere Lösungen gibt. Man kann daraus rasch Improvisationen ableiten, indem man eine Guideline mit leitereigenem Material verziert und umspielt - besser noch: man kann auch chromatische Vorhalts- oder Wechselnoten verwenden, die sich um die Tonart oder Skala überhaupt nicht scheren brauchen. Wenn man dann noch zwischen zwei oder noch mehr Guidelines hin und her pendelt, dabei dann womöglich gezielt die Spannungsebenen durchläuft, kommt man zu Ergebnissen, die – ohne große technische oder virtuose Mätzchen – überaus logisch und kraftvoll klingen.

Ich tippe auch dies nur kurz an, weil ich hier nur darauf verweisen will, daß es Techniken gibt, sich horizontal durch Akkorde zu bewegen, ohne in einem ständigen Auf und Ab Skalen oder Brechungen zu durchlaufen. Dabei – und hierauf kommt es mir an – kommt man in die Lage, tatsächlich zu improvisieren, d.h., aus dem Stegreif Musik zu erfinden. Das geschieht auch hier nicht unvorbereitet aus dem Nichts – bei der Variation von Guidelines ist man aber überraschend frei, und kann mit nur wenigen Mustern eine Fülle neuer Musik erfinden.

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