16.3.2009

Improvisation in der Musik (2)

(Themenanfang)

„Klassische” Musiker, die vom Notenblatt ablesen, sind keinesfalls tumbe Replikatoren einer so und nicht anders ausführbaren Spielanweisung. Gerade die Notenschrift ist hochgradig ungenau und allenfalls eine grobe Annäherung an das, was schließlich auf ihrer Grundlage an Musik entsteht: man muß sie interpretieren. „Interpretation” und „Improvisation” sind Begriffe, die keinesfalls grundsätzlich unterschiedliche Dinge beschreiben; eher sind sie zwei Seiten derselben Medaille. Der Interpret fügt individuelle Aspekte hinzu, wie auch der improvisierende Musiker nicht im luftleeren Raum schwebt und jeden Punkt seiner Darbietung aus dem Moment erschafft. - Aber eins nach dem anderen.

Interpretation betrifft nicht nur Fragen der technischen Ausführung, wie z.B. Wahl des Fingersatzes oder das Festlegen von Atempausen, sondern berührt Aspekte, die den ganz elementaren Charakter des vorzutragenden Stückes berühren. Das ist nicht nur die - freilich grundlegende - Auswahl des Tempos, sondern auch die Gestaltung von Lautstärke, Phrasierung und Agogik. Letztlich bekommt eine Komposition ihren Sinn erst durch die kreative Arbeit des Interpreten: ohne seine Analyse einer Partitur und den Schlüssen, die er daraus zieht, gibt es keine klingende Musik, die einer nachvollziehbaren Logik folgt.

Dabei finden sich unterschiedliche Abstufungen, wenn es um „Individualität” oder „Spontanität” geht. Auf der einen Seite stünde dort jener, der ein Stück zum ersten Mal sieht und es „vom Blatt” spielt (wie man sagt). Im anderen Extrem findet sich der Geiger am sechsten Pult der ersten Geigen eines Sinfonieorchesters, dem in aufwendigen Proben noch jene Freiheit genommen wurde, den Bogenstrich selbst zu wählen: alle ersten Geigen spielen Auf- und Abstriche völlig synchron. Seine ausgedruckten Stimmen wird der Notenwart nach all diesen Proben mit aberhundert handschriftlichen Ergänzungen zurück bekommen, in denen nicht nur Zusätze zu dynamischen Verläufen oder eben Stricharten festgehalten wurden, sondern teilweise sogar Fingersätze vermerkt sind, die er - wie alles andere auch - so und nicht anders auszuführen hat. - Zwischen diesen Extremen findet sich etwa ein Virtuose an einem bestimmten Instrument, der seine Interpretation zwar völlig frei und individuell gestaltet, sie jedoch - nachdem er sich ein Stück „erarbeitet” hat - immer wieder nahezu identisch vorträgt.

Eine entscheidende Rolle in improvisierter Musik spielt die Fähigkeit des „aufeinander Hörens” (ich komme ausführlich darauf zurück) - auch hier gibt es letztlich allenfalls einen graduellen Unterschied zum Musiker, der einen Notentext interpretiert. In einem Streichquartett oder Klaviertrio kann man noch so genau und präzise seinen Part replizieren - ohne präzises Ohr für den Mitmusiker läuft das binnen kurzem auseinander. Die besten kammermusikalischen Ensembles sind jene, in denen die Individuen zu verschwinden scheinen und man das Gefühl hat, es mit einem einzigen Instrument zu tun zu haben. Solch ein Eindruck entsteht nicht deshalb, weil die Individuen de facto verschwinden (wie sollte das auch gehen?), sondern weil diese akkurat nach- und mitvollziehen (gar vorvollziehen), was die Mitspieler tun.

In der Gestalt des Dirigenten gibt die letzte Variante eines Diktators, den man heute in den westlichen Gesellschaften toleriert (oder gar verehrt). Seine Macht über ein Orchester beschränkt sich aber letztlich auf die Proben - nur dort kann er seine Sicht der Dinge erklären und dafür sorgen, daß man seinen Vorstellungen folgt. Im Konzert ist er dann gelegentlich arg am Tanzen und will mit großen Gesten dem Publikum suggerieren, daß er der Star sei - dabei sind es auch hier die aufeinander hörenden Musiker, die den Zusammenhalt bewirken. Es ist kein Zufall, daß man gerade in den rhythmisch gelegentlich überaus komplexen Werken der Neuen Musik oft einen Dirigenten findet, der mit sparsamen Bewegungen mehr oder weniger ein Metronom ersetzt - die Tänze sind dort nur möglich, wo es ihrer nicht bedarf und man sich darauf verlassen kann, daß die beteiligten Ohren gründlich vernetzt sind und spontan aufeinander reagieren.

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