4.2.2009

Musik & Form (8) - Komplexität

(Themenanfang)

In der Zwölftontechnik gibt es keinen Ton, der nicht in einem definierten Verhältnis zu allen anderen steht. Der Komponist hat zwar immer noch sehr große Freiheiten im Umgang mit dem Material - zumindest an die Abfolge der Töne ist er, hat er sich erst einmal auf eine der Permutationen der Reihe festgelegt, für die nächsten zwölf Töne gebunden. Trotz dieses hochgradig komplexen Beziehungsgeflechts kann man nicht automatisch davon ausgehen, daß die formale Organisation größer wird; dafür wäre das Ohr zuständig, und das ist völlig überfordert, die Gestalten der Reihen zu „entziffern”. - Tatsächlich sind es regelmäßig Maßnahmen, die außerhalb der Zwölftontechnik liegen oder sogar ihren ursprünglichen Intentionen widersprechen, die formale Ordnung in die Werke von Arnold Schönberg und seinen Schülern bringen.

Wenn man sich - um ein herausragendes Beispiel zu nehmen - das Violinkonzert von Alban Berg anhört, wird man zunächst nicht ohne weiteres darauf tippen, daß hier eine strenge Zwölftonkomposition vorliegt. Zum einen wird dort eine große Bandbreite unterschiedlicher musikalischer Charaktere ausgebreitet, die in z.T. scharfen Widerstreit zueinander stehen. So finden sich Tanzrhythmen neben einem Choralsatz, wild hochfahrende Gesten des gesamten Orchesters neben kammermusikalischen Stellen, in denen die Harfe eine tragende Rolle hat, etc. - Zum zweiten gibt es zahlreiche Passagen, in denen sich Anklänge an eine Dreiklangsharmonik finden, mit dem Höhepunkt im Zitat eines Bachschen Chorals. - Beide Punkte widersprechen letztlich der von Schönberg intendierten Gleichberechtigung jedes einzelnen Tons, ergeben aber eine Farbigkeit - und damit auch Kontraste -, die formale Blöcke leicht erkennbar machen.

Wenn man sich - auf der anderen Seite - Werke der seriellen Musik [1] anhört, in denen nicht nur die Ordnung der Töne, sondern sämtliche musikalischen Parameter (also auch Lautstärken, Spielweisen und Klangfarben etc.) in festen Folgen sortiert sind, wird deutlich, wohin zunehmende Determiniertheit in der Musik führt: ins Chaos. Das sage ich keineswegs, um die seriellen Verfahren ins Unrecht zu setzen, ganz im Gegenteil: in ihnen wird zuende geführt, was letztlich in jeder Musik angelegt ist. „Organisation” ist eine Kategorie, die dem Ohr nur bis zu einem gewissen Grad zugänglich ist - und selbst für die eher bescheidenden (im Vergleich zur seriellen Musik) Ansätze in einer Beethoven-Sonate braucht es eigens ausgebildete Hörer, damit sie unmittelbar erfahrbar wird.

Die formalen Strukturen, die der abendländischen Kunstmusik eigen sind, haben letztlich nichts „Natürliches”, wie ihre Verteidiger gerade aus dem kulturkonservativen Lager gerne behaupten, die mit mit dieser Argumentation sich dabei sowohl gegen die vorgebliche Primitivität der Popmusik wie gegen die Experimente der „Atonalen” wehren wollen. In dem Rückgriff der Popmusik auf sehr einfache formale Muster kann sich der Grundcharakter von Musik als „Kunst in der Zeit” mit gewisser Natürlichkeit entfalten, die der „Kunstmusik” letztlich komplett fehlt. Umgekehrt offenbart sich in der seriellen Musik - mit dem in sie eingebauten Umschlagen in die Beliebigkeit - eine Dialektik, die aller artifiziellen Musik letztlich innewohnt.[2]

  1. [1] Ein Glossar-Eintrag folgt - der Wikipedia-Artikel ist einen Link nicht wert.
  2. [2] Damit ist wieder kein Plädoyer für oder gegen eine bestimmte Musik verbunden. Ich bin ein klarer Verfechter der Ansicht, daß man Hören lernen muß, und zwar für eine adäquate Wahrnehmung jeder Musik. Dabei gehe ich sogar so weit zu behaupten, daß die Kenntnis der Notenschrift unabdingliche Voraussetzung ist, um irgendwann adäquat hören zu können (was würde man von einem Theaterliebhaber - oder gar einem Schauspieler - halten, der nicht lesen kann?). - Aber das ist jetzt nur eine These, die weiterer Begründung bedarf.
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