Musik & Form (2) - Kontrast

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Der zweite zentrale Begriff lautet Kontrast. Darunter verstehe ich das Aufeinandertreffen zweier formaler Blöcke von unterschiedlichem Charakter – ein lauter Abschnitt folgt einem leiseren, ein langsamer einem schnellen, ein kammermusikalischer einem orchestralen, etc. Kontrastierende Wirkungen sind gewissermaßen das Gegenstück zur Wiederholung, weil auch sie die Zeit strukturieren - jetzt jedoch nicht, indem Gleiches erinnert und aufeinander bezogen werden kann, sondern durch die Konstruktion eines Bruchs. Wo man beruhigt und wissend nickt, wenn man eine Wiederholung erkennt und dadurch einen zeitlichen Abstand zum „Original“ herstellen kann, wird der Bruch, den der Kontrast bewirkt, als Überraschung (womöglich als Schock) erlebt, die – wie ein Stundenschlag – die Zeit in das zerteilt, was vorher war, und das, was nun beginnt.

In der Ebene der Wiederholung konstituiert sich die Einheit eines Stückes; im Kontrast gewinnt es seine Farbigkeit. Letztlich generiert das Umschlagen der unterschiedlichen Farben ebenso eine zeitliche Struktur wie die Wiederholung.

Voraussetzung für diese Funktion ist jedoch, daß diese Farben dem Hörer auch über einen größeren zeitlichen Verlauf erkennbar sind. Ein Beispiel ist ein Abschnitt in Dur, dem einer in Moll folgt: wenn der Hörer nicht über die Erfahrung verfügt, eine Dur-Kadenz als solche wahrzunehmen und diese von einer Moll-Kadenz zu unterscheiden, bleibt die Wirkung aus: er wird lediglich unzusammenhängende Akkorde hören, und auch den formalen Bruchpunkt verpassen.

Kontraste haben eine weitere Voraussetzung, wenn sie zur Bildung formaler Strukturen dienen sollen: sie müssen selten sein; ihre Wirkung verdankt sich einer bewußten Ökonomie. Wenn ein Kontrast den nächsten jagt, ist die Schockwirkung letztlich hinfällig, und damit auch die zeitliche Ordnung, die durch sie möglich wäre.

Letztlich gilt hier eine ähnliche Ordnung wie bei der Wahrnehmung von Wiederholungen: Musik, die keine Kunstmusik sein will, beschränkt sich auf einfache und robuste Kontraste, die auch einem ungeübten Hörer deutlich auffallen – beispielsweise in Form eines klaren Unterschieds im Rhythmus, oder durch ein pointiertes Gegenüber von „laut“ und „leise“. Je komplexer Musik wird, desto genauer muß der Hörer auf Nuancen achten, um das Aufeinanderprallen der Abschnitte nicht zu verpassen. In einer Bachschen Fuge etwa ist der Übergang von Exposition und Durchführung äußerst subtil; in den Werken der Moderne ist man gelegentlich ohne Einblick in den Notentext völlig verloren.

Erst im Zusammenwirken von Wiederholung und Kontrast bekommt ein Musikstück eine erkennbare Form und Struktur. Am Beispiel von Strophe und Refrain wird deutlich, daß der Refrain erkennbar anders klingen muß als die Strophe – das tut er, indem er auf einer oder mehreren Ebenen einen Kontrast zu ihr bietet. Ein anderes Beispiel ist die Form des Rondo: ein Hauptthema (A) erklingt wieder und wieder, wobei es durch immer neue kontrastierende Nebenthemen unterbrochen wird (A-B-A-C-A-D-A – etc.). Diese Nebenthemen müssen nicht selber wiederholt werden; es reicht völlig aus, wenn sie immer durch das Hauptthema abgelöst werden, um dem Stück einen Zusammenhang zu verschaffen.

Diesen Effekt kann vielleicht ein Bild verdeutlichen: das Hauptthema lädt zum Tanz ein; wenn ein Nebenthema einsetzt, bleiben die Paare verwundert stehen, und hören – etwas befremdet – zu; wenn das Hauptthema wiederkehrt, lachen alle befreit auf, und der Tanz setzt wieder ein.