5.1.2009

Musikproduktion am Computer (12)

(Latenz, Teil 2 - Fortsetzung von gestern)

(Themenanfang)

Ganz zu Beginn - Anfang der 90er - hatte dieses Argument zweifellos seine Berechtigung, betrugen die Latenzen doch 30ms und mehr. Es gilt: je geringer die Latenz, desto kleiner die Blöcke, und desto schlechter die Performance - wobei sich mit den heutigen Multi-Core-CPUs Latenzen im einstelligen Millisekunden-Bereich realisieren lassen. Mein System erlaubt ruckelfreies Playback bei gleichzeitiger Aufnahme mit einer Latenz von 10ms - theoretisch machbar sind auch 4ms, wobei dann aber die Wiedergabe Aussetzer hat. Aufgrund der subtilen Schwankungen im Timing, die so etwas wie eine "groovende" Performance von schlechtem Spiel unterscheiden, scheint aber auch eine Latenz von 10ms inakzeptabel.

Die Mathematik sagt aber etwas anderes. Die Schallgeschwindigkeit beträgt 343 Meter/Sekunde, das sind 3,4 Meter in 10ms. Wenn ich mit der (E-)Gitarre 3,4 Meter von meinem Verstärker entfernt stehe, habe ich genau die zur Frage stehende Latenz: ich höre mein eigenes Spiel mit einer Verzögerung von 10ms. Wenn das tatsächlich ein Problem sein sollte, wäre jedes Rockkonzert ein Ding der Unmöglichkeit - dort stehen die Musiker teilweise zehn oder noch mehr Meter von den Monitoren entfernt, von Ausflügen in Randbereiche der Bühne ganz zu schweigen.

Dabei sieht man immer wieder Musiker, die mit einem Knopflautsprecher im Ohr unterwegs sind, und genau an diesem Problem zu leiden scheinen. Gerade Sänger sind es gewohnt, den Klang der eigenen Stimme direkt im Kopf, im eigenen Körper zu erleben. In einer Konzert- oder Aufnahmesituation ist dies nicht mehr der Fall, weil der Rest der Band schlicht zu laut ist. Mit einem Monitor (der auch nur eine Mischung der gesamten Band wiedergibt) läßt sich dieser fehlende Körperbezug aber nicht simulieren - deshalb, in erster Linie, der Knopf.

Ein Gitarrist ist meiner Erfahrung nach definitiv in der Lage, sich an solche Latenzen anzupassen. Ich habe in meiner aktiven Zeit beim Soundcheck gelegentlich mit einem langen Kabel einen Ausflug in den Zuschauerraum unternommen, und hatte dabei noch keine Probleme, weiter mit der Band zu spielen. Es fühlt sich schon etwas besser an, wenn man direkt vor dem Verstärker steht - wobei das noch immer nicht das Problem löst, daß die Verstärker der anderen zwangläufig in einer gewissen Distanz stehen. Das Ohr ist aber wesentlich anpassungsfähiger, als der Streit um die Latenz suggeriert.

Schließlich gibt es einen einfachen Trick, um die von der Software generierten Latenzen bei der Aufnahme komplett los zu werden: man geht über ein externes Mischpult, und schickt dessen Ausgang an den Computer - und parallel dazu auch an den Monitor. Man kann dann immer noch einen gewissen Anteil aus dem Computer zum Monitor hinzu mischen - ob ein Halleffekt 10ms früher oder später einsetzt, ist definitiv unproblematisch.

Es bleibt die Frage, warum die Profis nach wie vor Unsummen in ihre ProTools-Systeme investieren, obwohl objektiv alles dagegen zu sprechen scheint. Es würde den Rahmen des Themas sprengen, wenn ich eine begründete Antwort versuche - letztlich sind es m.E. keine rationalen Gründe, die zu solchen Präferenzen führen (wenn man von Gründen der Kompatibilität mit anderen Studios absieht, die freilich großes Gewicht haben), sondern Vorurteile, die wiederum historische und soziale Wurzeln haben. Ich komme auf das Thema in einem anderen Kontext zurück.

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