3.11.2008

Über Rhythmik (10)

(Themenanfang)

Was ist Groove? Was läßt Swing swingen, eine Funknummer zum Hüpfen bringen oder ein Rockstück losgehen? Was bringt einen dazu, sich zu solcher Musik fast zwangsläufig bewegen zu wollen, was bewirkt solchen motorischen Impuls und kickt direkt auf den Körper? Anders gefragt: wieso hat man beim Hören von „Klassik” das Gefühl, daß hier Harmonik und formale Organisation von großer Bedeutung sind und man ohne einen gewissen Grad an Komplexität dieser Parameter auch mangelnde Qualität leicht assoziiert – während sich dieser Eindruck bei einem Blues mit seinem ewig gleichen Schema aus drei Akkorden in zwölf Takten fast von selber verbietet?

Zunächst – und das ist nur ein Teil der Wahrheit – steht noch der simpelste Popsong auf einer Struktur aus Offbeats. Downbeats sind die schweren, Offbeats die leichten Zählzeiten, immer bezogen auf einen bestimmten Puls (s.o.). In einem Puls aus Vierteln sind »1« und »3« Downbeats, »2« und »4« Offbeats; wenn man auf die Ebene der Achtel geht, sind die Zählzeiten (1 2 3 4) „schwer” oder „down”, und die Achtel dazwischen (1+2+3+4+ – immer das „und”) „leicht” oder „off”. Das findet man dann auch auf der Ebene von halben Noten wieder: die »1« ist schwer, die »3« leicht.

Wenn man jetzt hergeht, und die eigentlich leichten Zählzeiten – eben die Offbeats – noch betont, bekommt man all jene Rhythmen, die im Popbereich eine Rolle spielen.

Man kann wohl soweit gehen und sagen, daß sich all die unterschiedlichen Stile, die man in der Popmusik findet, letztlich durch die Art und Weise unterscheiden, in der sie Offbeats betonen. Einen Swing – oder auch nur dessen Zitat – erkennt man an der Betonung von »2+« und »3+« durch das Becken (dieses „ding-diggeding” des Ride). Einen Reggae identifiziert man über die Bassdrum auf der »3« und Offbeats auf »2« und »4« von der Gitarre; selbst dann, wenn man andere Zutaten wegläßt – wie die typischen Gitarrensounds oder jene Baßbegleitung, in der es keine »1« mehr gibt – bekommt man immerhin eine Ahnung davon. Disco: das ist eine auf allen Vierteln durchlaufende Bassdrum, die die Offbeatwirkung der Snare (auf »2« und »4«) stark zurücknimmt. – Und so weiter.

Mir ist an dieser Stelle nicht um die Vollständigkeit der Liste zu tun; ich will nur herausstellen, wie wichtig die Betonung der Offbeats für alle Popmusik ist – von Blues bis Indie, von Rock'n Roll bis Trance, aber auch für Volksmusik und Jazz, sogar – auf versteckter Weise – für dessen Experimente im Freejazz.

Dabei gibt es natürlich auch in der abendländischen Kunstmusik Werke, die die leichten Zählzeiten betonen; Adorno hat die angebliche Überlegenheit des Jazz in rhythmischer Hinsicht – fast höhnisch knapp, aber mit einigem Recht – mit Verweis auf Johannes Brahms zurückgewiesen. – Tatsächlich findet man letztlich für jedes Experiment der Pop- oder Jazz-Avantgarde ein Gegenstück in der „Klassik”, das sich des jeweiligen Themas konsequenter und radikaler annimmt, ob es sich um Form oder Harmonik handelt, oder auch um scheinbar popimmanente Bereiche wie Sound oder Rhythmik.

Durch diese Feststellung (Behauptung?) ist die Frage nach dem Wert bestimmter Musik natürlich noch längst nicht beantwortet – ja, sie wurde dadurch nicht einmal gestellt.

(Kommentarfunktion z.Zt. deaktiviert.)