1.11.2008

Joanna Newsom - Ys

Ich hatte die CD gerade - ohne vorab angelesene Informationen und ohne die leiseste Ahnung, was mich erwartet [1] - in den Player gelegt und versucht, der Musik so unvoreingenommen zu folgen, wie das irgend geht. - Zunächst: mit Pop hat das nichts mehr zu tun, und mir fällt kein Vergleich ein, mit dem man wenigstens einen Hinweis darauf geben könnte, wovor man hier steht.

Im ersten Moment war ich regelrecht erschrocken über Joanna Newsoms Stimme; das klingt in derart hohem Maß nach einem kleinen Mädchen, daß ich einen Moment vermutet hatte, daß man da mit einem Vocoder gearbeitet hat. Das hat man zwar nicht getan; es hält sich aber die ganze Zeit der Eindruck, es mit etwas Artifiziellem, äußerst Zerbrechlichen zu tun zu haben.

Das Hauptinstrument, von dem alle Songs getragen werden, ist die Harfe - und zwar, und das wird auch beim ersten Hinhören deutlich, gespielt von einem Virtuosen (Joanna Newsom herself, wie ich mittlerweile weiß), der ganz eigene Wege erkundet und hier Sachen macht, die ich so noch nicht gehört habe. Gelegentlich liefert die Harfe ostinate, an den Minimalismus eines Philip Glass erinnerende Begleitfiguren; anderswo kommen komplizierte rhythmische Überlagerungen, in denen der Puls zu verschwinden scheint. Neben den Ostinati in nur einer Tonart gibt es wilde harmonische Bewegungen, die aber immer mit diatonischem Material auskommen, d.h., ganz weitgehend mit reinen Dur- oder Mollakkorden. Das ergibt sich aus der Natur des Instruments, mit dem man bekanntlich chromatische Läufe nur mit Hilfe der Pedale spielen kann (pro Oktave gibt es nicht zwölf, sondern sieben Saiten).

Gleich zu Beginn begegnet man den Orchesterarrangements, die für vier der fünf Stücke eine große Bedeutung haben. Dabei handelt es sich nicht um irgendeine "Begleitung", die hinter oder unter den Harmonien liegt und nur einige Farben beisteuert; das Orchester ist neben Harfe und Stimme völlig gleichberechtigter und eigenständiger dritter Protagonist. Ab und an geht das so weit, daß es in wilden Dissonanzen dazwischen funkt; meistens fügt es sich aber in den harmonischen Rahmen, wenn auch immer mit Einwürfen, die auf ihrer thematischen Eigenständigkeit beharren.

Ich sagte bereits, daß die CD gerade fünf Stücke enthält; man findet eine großflächige Struktur, die den Fluß einer ununterbrochenen Erzählung hat. Es gibt keinen Rahmen aus Strophe und Refrain; auch formale Teile, die klar als Wiederholung erkennbar wären, fehlen fast völlig. Es gibt keine Klammern, die einzelne Teile voneinander abgrenzen, sondern ein ständiges Fortschreiten ohne Punkt und Komma. Dem entspricht im übrigen der Text - ich hatte beim ersten Hören gar nicht erst den Versuch gemacht, die Worte zu verstehen, und beim Lesen des Textes dann gesehen, daß das gar nicht geht; er ist in einer Art Phantasiesprache verfaßt, die wunderschön klingt, ohne klar umrissenen Sinn.

Ich kann ja leider nicht anders, sondern mußte sofort überlegen, wie das gemacht sein könnte. Von Stück zu Stück war ich immer mehr davon überzeugt, daß man mit Samplern gearbeitet hat - die Strukturen sind derart chaotisch und zerfasert, daß der Verdacht nahe liegt, da habe man mehr oder weniger improvisierte Hand angelegt, und nach und nach Schicht für Schicht übereinander getan. Hat man aber nicht: das ist tatsächlich ein großes Orchester, das man zwar in einem zweiten Durchgang über die vorher eingespielten Takes von Harfe und Stimme aufgenommen hat, das aber komplett vorher so geplant und notiert gewesen sein muß (man kann mit Samplern im Studio improvisieren, kaum aber mit mehr als dreißig Leuten im Orchester).

Für ein Resumé ist es zu früh, wobei ich aber schon jetzt festhalten kann, daß sich diese Aufnahme nicht im ersten Anlauf erschließt. Das braucht häufiges Wiederhören - und, auch das ist jetzt schon klar, dazu gibt es allen Anlaß.

(Foto: Wikipedia)

  1. [1] Das ist nicht ganz wahr - ich hatte kurz bei lastfm.de reingehört. Ansonsten habe ich mich einfach darauf verlassen, daß mein persönlicher Tipgeber auch hier wieder ins Schwarze trifft.

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