27.10.2008

Über Notenschrift (2)

Würde man einem Theatermacher über den Weg trauen, der nicht lesen kann? der sich darauf beruft, daß er das Stück, das er zu inszenieren gedenkt, oft genug auf der Bühne gesehen hat, um zu wissen, worum es dort zu tun ist? Nein?

Wenn es darum geht, eine Oper zu inszenieren, reicht es heutzutage gelegentlich aus, wenn man eine ungefähre Ahnung von der Musik hat, und sich ihr über letztlich unbestimmbare Assoziationen nähert. Werner Herzog ist hier nicht der erste in der Reihe; nachdem Steven Soderbergh Einsicht gezeigt und die Parzifal-Inszenierung für Bayreuth letztlich doch zurück gab, wurde Christoph Schlingensief damit beauftragt, und wurde tätig. - Das sind ja alles unbestritten Film- oder Theaterregisseure von hohem Verdienst - im Zusammenhang aber mit einem entscheidenden Nachteil behaftet: sie können keine Noten lesen.

Eigentlich sollte ich mich gar nicht mehr wundern. Die Fähigkeit zum Lesen von Notenschrift ist selbst dort immer weniger verbreitet, wo man sie eigentlich dringend braucht, und wo sie der Laie auch voraussetzt: bei denen, die Musik produzieren. Den Machern der angesprochenen TV-Komödie war es jedenfalls ebenso selbstverständlich, daß eine Musikproduzentin Noten schreiben, wie daß eine auch noch so abgefahrene Rockband diese auch lesen kann. - Aber das ist Vergangenheit (bzw. eine Wahrnehmung, die gerade zu Vergangenheit wird).

Irgendwann wurde es möglich, auch als musikalischer Analphabet Musik zu machen, die andere für relevant hielten - wobei man zunächst immer mit verschämten Blick zugab, nicht lesen zu können, bis dies schließlich überhaupt kein Problem mehr darstellte, und man nicht einmal mit dieser Unfähigkeit kokettierte.

Angefangen hat diese Entwicklung nicht etwa in jener Musik, die auf Improvisation - dem Gegenentwurf zur Reproduktion niedergeschriebener Musik - basiert, dem Jazz. Die Anfänge in New Orleans mögen ohne Notat ausgekommen sein; spätestens die Bigbands der dreißiger Jahre jedoch waren zwingend angewiesen auf Arrangeure, die Partituren schreiben, und Musiker, die ihre Stimmen lesen konnten. Von Charlie Parker z.B. mag man das Bild eines Rebellen haben, der ungebunden und frei von schriftlich fixierten Vorgaben gespielt hat. Abgesehen davon, daß die allermeisten Stücke des Bebop viel zu komplizierte Themen und Akkordfolgen haben, als daß man sie durch Auswendiglernen bewältigen kann: Parker hatte seine Schule in den Bigbands, und hinter einem Notenpult in der Saxophon-Section auch seine Brötchen verdient ("Improvisation" ist ein anderes Thema, ein weites Feld).

Ich vermute, daß die Notenschrift zuerst in den Rockbands der Sechziger und Siebziger überflüssig wurde - wo man ihr Verschwinden übte. Man hat dort häufig die Stücke im Kollektiv der Band entwickelt, und nicht so sehr die Vorgaben eines Einzelnen umgesetzt - wenn dies doch geschah, war die Struktur von Harmonik und Form einfach genug, um sie durch wiederholtes Vorspielen dem Gedächtnis der Bandmitgliedern einzupauken. - Aber auch in dieser Zeit waren sowohl die Schlagersternchen als auch die ernsthaften Popstars nur die Ikonen, hinter denen sich Musiker verbargen, die über das komplette Spektrum des Handwerks verfügten. Ein Michael Jackson ist ohne Quincy Jones nicht denkbar.

Der entscheidende Wendepunkt liegt im Aufkommen der Computer. - Plötzlich konnte man Musik machen, ohne zuvor Jahre damit zuzubringen, ein Instrument zu lernen, ja mehr noch: man konnte Musik erfinden - "komponieren" -, indem man mit dem "klingenden Objekt" direkt experimentiert. Ohne handwerklichen oder theoretischen Hintergrund ließen sich Töne auf ein virtuelles Tonband mit der Maus klicken, ohne viel Aufwand oder Kosten hoch oder runter und hin und her verschieben, länger machen oder kürzer: die musikalischen Parameter wurden zum Spielplatz, und die Verfügung über die Klangfarbe gab es im Synthesizer umsonst mit auf den Weg.

[Wird fortgesetzt]

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