16.10.2008

Über das Glück des ersten Eindrucks

Ich habe kürzlich bei Klassik Online ein Interview mit John Gardiner gelesen, in dem er von seinem Projekt erzählt, die vier Brahms-Sinfonien einzuspielen. Die erste CD ist gerade heraus (und steht auf meiner Wunschliste ganz oben) - dort wird die erste Sinfonie eingeleitet von einem Chorwerk Brahms', dem Schicksalslied.

Ich habe einen Moment überlegt - Alt-Rhapsodie, klar; Akademische Festouvertüre, ebenso; Deutsches Requiem, selbstverständlich. Aber Schicksalslied? Ganz so viele Sachen für Chor und Orchester hat Brahms gar nicht geschrieben, und ich kenne mich in dessen Werk eigentlich recht gut aus. Schließlich zähle ich ihn zu den ganz großen Komponisten - hätte ich im 19.Jh. gelebt, wäre ich wahrscheinlich Anti-Wagnerianer und Brahms-Fan gewesen (glücklicherweise muß man sich da heute nicht mehr so festlegen). Aber Schicksalslied?

Gerade eben habe ich in meiner CD-Sammlung gekramt, und eine Aufnahme gefunden und aufgelegt (Kurt Masur/NYPO von 1995). Und tatsächlich: ich hatte diese Musik nie zuvor gehört.

Wie soll ich das Erlebnis beschreiben, wenn man wirklich große Musik, mit ausgebildeten Ohren, zum ersten Mal erlebt? Der allergrößte Teil der sog. "E"-Musik stammt aus einer relativ entfernten Vergangenheit, und die Chance ist groß, daß man die meisten ihrer Werke schon längst gehört hat - und jedes zweite Hören ist mit einem Schatten aus Erinnerung überzogen. Als ich zum ersten Mal mit den Sinfonien Beethovens in Berührung kam, war ich ein Kind; bewußt erinnere ich mich an erste Erfahrungen mit ihnen, die dreißig Jahre zurück liegen. Mit vielen anderen Werken geht mir das ähnlich - und ich stehe damit nicht allein, das ist der typische Erfahrungsstand bei Hörern sog. klassischer Musik.

Wenn man dann einem Werk gegenüber tritt, das diesen Filter aus vergangenen Hörerfahrungen noch nicht mit sich trägt; das noch nicht von diesem Schatten der eigenen Vergangenheit verhängt ist; das man unmittelbar erfahren kann - dann springt da ein Funke zwischen Musik und Hörer, von dem man glaubt, er müßte sichtbar sein und den Raum erleuchten.

Ich bin weit davon entfernt, das Schicksalslied jetzt "verstanden" zu haben - und ich bin auch nicht deshalb davon beeindruckt, weil man es hier mit Brahms zu tun hat (Brahms hat, gerade im Frühwerk, durchaus auch schwache Sachen in seinem Katalog). - Trotzdem bin ich mir sicher, daß ich da einen weiteren Stein gefunden habe, der zu einem Mosaik führen wird, dessen Gestalt ich noch nicht kenne, von dem ich aber weiß, daß es - auf welch verquere Art auch immer - dann richtig ist.

(Kann es sein, und ich versuche mich gerade an einer Definition des Begriffs der "Schönheit"?")

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