4.7.2008

Alexander Zemlinski - Die Seejungfrau (Sinfonische Dichtung)

Alexander Zemlinski (1871-1942) gehört zu jenem Kreis, der sich um die Jahrhundertwende in Wien um Gustav Mahler versammelte, um der Musikgeschichte nach Brahms und Wagner ein weiteres Kapitel hinzuzufügen. Wo die Werke seines drei Jahre jüngerer Freundes und Schwagers Arnold Schönberg heute zum festen Bestand des Repertoires wurden, tut man sich mit Zemlinski nach wie vor schwer: selbst die Linernotes zur vorliegenden Aufnahme der "Seejungfrau" können keine klare Linie seines Schaffens erkennen, und attestieren ihm - in einer mühsamen Formulierung, die den Vorwurf der Stillosigkeit nur knapp vermeidet - einen "langen Weg".

Aber der Reihe nach.

"Die Seejungfrau" wurde im Jahr 1905 uraufgeführt, im gleichen Jahr wie Richard Strauß' "Salome", und gemeinsam, im selben Konzert, mit Schönbergs "Pelléas und Mélisande". Im Nachhinein überrascht es außerordentlich, daß diese drei Werke wesentlich mehr verbindet, als sie trennt:

  • Sie sind für ein gigantisches Orchester geschrieben, und stellen den Höhepunkt der Kunst der Orchestrierung dar, wie er kaum wieder erreicht und nie mehr überschritten wurde.[1]
  • Sie gehen bis an die Grenzen der Tonalität - und anschließend ein gutes Stück darüber hinaus. - In diesem und dem Punkt davor berufen sie sich auf Wagner, und gehen den nächsten Schritt.
  • Die Technik im Umgang mit dem Leitmotiv nimmt völlig neue Züge an: statt es, wie bei Wagner, ständig fast wörtlich zu wiederholen, wird es stetig entwickelt. Hier steht Brahms Pate, auf den sich Schönberg später auch musiktheoretisch berufen wird.
  • Brahms Technik der "entwickelnden Variation" wird nicht nur horizontal, d.h. im zeitlichen Verlauf verwendet, sondern kommt auch in der vertikalen Organisation der Partitur zum Zuge: wo es laut werden soll, werden nicht bloß Stimmen gedoppelt, sondern hinzukommende Stimmen nehmen eine selbständige thematische Entwicklung.

  • Verrückt ist, wohin die Wege danach führten.

    Strauß hat noch die Elektra geschrieben, die sich in ähnlich radikalem Neuland bewegt - nur um danach einen möglicherweise noch radikaleren Schritt zu vollziehen, und mit dem "Rosenkavalier" dem konservativen Publikum zu zeigen, daß er es doch nicht so recht mit dem intellektuellen Judentum zu tun hat.

    Schönberg ging bekanntlich den Weg des Revolutionärs konsequent weiter, bis hinein in die unversöhnliche Haltung eines Nicht-Verstandenen, dessen schulmeisterlicher Duktus gelegentlich groteske Werke enstehen ließ. Immerhin war er am Ende seines Lebens berühmt genug, um von seiner Lehrertätigkeit in Holywood(!) überleben zu können.

    Zemlinski schließlich starb verarmt 1942 in New York. Erst in den Achtzigern begann eine Renaissance seiner Werke, immer aber unter dem Vorbehalt, es letztlich mit einem - wenn auch begabten und hörenswerten - Eklektiker zu tun zu haben.

    Ich höre da etwas ganz anderes: eine jener Stimmen, die für einen ganz anderen Weg plädierten, den die Musikgeschichte nach der Tonalität hätte nehmen können, für einen Weg jenseits des kompromißlosen Einschließens in den Elfenbeinturm ebenso wie jenseits des nicht minder kompromißlosen Heranschmeißens an die gängige (bürgerliche) Vorstellung von "Kunst".

    Die NS-Zeit hat diese Stimmen endgültig und unwiderruflich zum Schweigen gebracht. Wenn ich Zemlinskis "Seejungfrau" höre, habe ich jedesmal Tränen in den Augen, wenn ich mir klar mache, was uns da entrissen wurde [2].

    1. [1] Die Formulierung ist übertrieben apodiktisch. Alban Bergs Behandlung des Orchesters ist mindestens ebenso unwiderstehlich - von Helmut Lachenmann ganz zu schweigen.
    2. [2] Es steht aus: eine genauere Betrachtung der "Seejungfrau" (mir fehlen z.Zt. sowohl die Partitur, als auch eine vernünftige Aufnahme), sowie eine Besprechung der vier Streichquartette. Besonders das 4. Streichquartett op.25 (das so rätselhaft-grandios daherkommt, daß ich die Noten kaufen mußte) zeigt m.E. schlagend, daß Zemlinski einen völlig unverwechselbar eigenen Weg ging.
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