Menschennatur (5)

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Der Materialismus, der bereits vor seiner massenhaften Verbreitung im 19.Jh von Kant gründlich widerlegt wurde, ist endgültig tot. Dies sagt nicht etwa irgendeine neue Mode in der Philosophie oder eine esoterische Heilslehre, sondern jene Instanz, aus der der Materialismus entstammte: die Physik. Nicht mehr Ursache und Wirkung oder die Wahrnehmung der Wirklichkeit mit den Sinnen definieren den aktuellen Stand der Naturwissenschaften, sondern Statistik und höhere Mathematik. Die Relativitätstheorie Einsteins hat sich durchgesetzt und gilt als bewiesen [1], und das Verstehen quantenmechanischer Phänomene könnte schneller zur zweiten Revolution der Computertechnik führen, als wir dies heute noch annehmen. Von der zehndimensionalen Struktur der Wirklichkeit, von der bestimmte Theorien im Bannkreis der Superstrings ausgehen, ist erst gar nicht zu reden.

Am Ende behalten jene Recht, die in der Neuzeit zuerst erbittert bekämpft, zum Schluß, nach scheinbar verlorener Schlacht, nur noch müde belächelt wurden: die Phänomenologen. Der Begriff des Idealismus verdrehte sich von der emphatischen Bezeichnung für den bestimmenden philosophischen Diskurs des 19.Jh zu einer verächtlichen Bezeichnung für jene, die immer noch nicht gelernt haben, das harte Brot der realen Wirklichkeit zu essen, sondern von utopischen Welten träumen, in denen man sich von Ambrosia ernährt. Heute kann man jene als Hinterwäldler ohne rechten Bezug zur aktuellen Welt verspotten, die noch die Frage nach dem "Warum" beantwortet wissen wollen, oder nur an jene Dinge glauben, die man sehen oder anfassen kann.

Wenn man den Zeitbezug der letzten zweihundert Jahre in den richtigen Maßstab setzt, ist das gar kein Wunder. Die Ersten, die entdeckten, daß die Welt den Menschen nichts als eine Erscheinung ist, hinter der sich die eigentliche Realität, ihr eigentliches Wesen verbirgt, waren ja nicht Kant oder Schopenhauer oder ihr Urahn, Plato. Schopenhauer nennt die Wurzeln explizit:

Die [direkte Darstellung der] lebendige[n] Erkenntniß der ewigen Gerechtigkeit[...] finden wir in den Veden, der Frucht der höchsten menschlichen Erkenntniß und Weisheit, [...] auf mancherlei Weise ausgedrückt, besonders aber dadurch, daß vor den Blick des Lehrlings alle Wesen der Welt, lebende und leblose, der Reihe nach vorübergeführt werden und über jedes derselben jenes zur Formel gewordene und als solche die Mahavakya genannte Wort ausgesprochen wird: [...] tat twam asi, welches heißt: »Dies bist du«.
(Welt als Wille [2], München 1998, S.460)


Atempause (die indischen Wurzeln sind den Hinweis wert, aber nicht Zentrum meines Themas. - Ich muß übrigens ausdrücklich davor warnen, nach dem "tat twam asi" zu googlen - ich stolpere da über Esoterik-Müll ohne Ende, ohne jede weiterführerende Erkenntnis als jener, daß der Begriff förmlich enteignet wurde).

  1. [1] So geben die Meßergebnisse der GPS-Satelliten erst dann verlässliche Werte, wenn sie mit der Theorie der Abhängigkeit zwischen Zeit und Geschwindigkeit verrechnet werden.
  2. [2] Das Abtippen von Schopenhauer-Zitaten hat ein Ende, hurra!