16.3.2008

Matthäus-Passion 2

Start, Teil 3

Gleich der erste Chorus gibt eine Vorstellung von der Größenordnung, mit der wir es hier zu tun haben: es werden zwei komplette Orchester aufgeboten (jeweils 1.+2. Flöten, 1.+2. Violinen, Viola, Continuo), zwei Chöre rechts und links, sowie ein Knabenchor in der Mitte. Diese enorme Besetzung wird nicht dazu benutzt, durch Stimmverdoppelungen Wucht durch Lautstärke zu erzeugen; jede Stimme hat ihre eigene Bedeutung im polyphonen Geflecht. - Man kann diese Komplexität auf allen Ebenen wiederfinden, in der Form, dem Rhythmischen, der Harmonik (eine detaillierte Analyse bräuchte ein ganzes Buch).

Die insgesamt neunundzwanzig "Nummern" des ersten Teils sind ein loser Verbund aus Rezitativen, Arien, Chorälen, und Chören. Auf dem ersten Blick ähnelt dies dem Vorgehen in den Kantaten. Wenn man genauer hinsieht, findet man eine Gestaltung völlig fern von vorgefertigten Versatzstücken. Wo in den Kantaten häufig das Schema Rezitativ-Arie wiederkehrt, ist hier jede Abteilung eine individuelle Erfindung, selbst im Formalen. Nichts wiederholt sich, nichts wirkt nur im Entferntesten stereotyp (eine Ausnahme von dieser Aussage sind sicherlich die Choräle).

Sehr deutlich wird dies in jenen Passagen, in denen der Chor in die Rezitative montiert wird: Evangelist: "Sie sprachen aber:" - Chor (in wilder Bewegtheit): "Ja nicht auf das Fest, auf daß nicht ein Aufruhr werde"; gleich darauf wieder, der Evangelist: "sie sprachen:", der Chor: "Wozu"... (4a-d).

Ebenso deutlich jedem Schema enthoben ist die wörtliche Rede Christi: sie wird stets von Streichern begleitet; manchmal erstreckt sie sich in einer einzelnen Silbe über mehrere Noten; dadurch wird sie mehr als einmal fast zur Arie.

Noch ein Beispiel (um nur bei den Rezitativen zu bleiben): Nr.19 bringt einen pulsierenden 16tel-Baß im Continuo (gegen den Usus, den Sänger mit wenigen Einwürfen zu begleiten), in den dreimal ein Choral montiert wird.

In dieser Weise könnte ich stundenlang weiter machen. Wenn man auf formaler Ebene alles gesagt hat, könnte man die harmonische Ebene untersuchen. Schließlich könnte man sich Rhythmik und Phrasenbildung genauer anschauen, um nochmals über zahllose Wunder zu stolpern.

Was mich aber am meisten fasziniert, ist die Art und Weise, in der diese allerhöchste Handwerkskunst daherkommt: sie steht nämlich völlig im Dienst der Sache. Ich finde hier keine leeren Tricks und kein virtuoses Blendwerk - mir scheint jede Note einem Zweck zu dienen, nämlich der Vermittlung des Textes.

Teil 3

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